14.
November 2001
Wer spricht?
Die
Bibel - in neuem Französisch
Als
sich die Weisen Israels im ersten Jahrhundert u. Z. nach und nach der Auffassung
Rabbi Akibas anschlossen, dass die Bibel nicht mit
menschlicher, sondern mit göttlicher Sprache spreche, war damit der Ausgangspunkt
für eine bis heute einmalige Kunst der Hermeneutik markiert: Die göttliche
Sprache bedient sich nie eines überflüssigen Wortes, um wie die menschlichen
Sprachwerke mit gefälligen Stileffekten Bewunderung
zu heischen. Nach Meinung jener Talmudisten hat
also jedes Wort und jeder Buchstabe der Bibel eine Bedeutung und trägt eine
göttliche Botschaft, die sich nur durch die komplexen Strategien der Interpretation
enthüllen lässt.
Für
die frühen Christen galt diese Art der Schriftdeutung jedoch als blosse Wortklauberei der Gelehrten. Angesichts des erwarteten
Weltuntergangs trat für sie der Sinn des einzelnen Wortes hinter die Bedeutung
des spirituellen Ganzen zurück. Vor allem aber erkannten die geistigen Führer
der frühen Christen, die ihren reformiert jüdischen Glauben in die Welt zu
tragen suchten, wie sehr ihr missionarisches Vorhaben gerade vom geschickten
Einsatz der «menschlichen» Sprachmittel abhängt. Denn erst die «überflüssigen»
Stil- und Menschenworte machen den Text zu einer Komposition, die zum Herzen
spricht und die Seelen aufwühlt.
Übersetzen,
interpretieren
Das
gesamte Christentum gründet auf Übersetzungen seines Heiligen Buches. Und
die Absicht der Bibelübersetzungen bestand stets auch darin, durch sprachgestalterische
Mittel einen Text hervorzubringen, der seine Leser und Zuhörer mitreisst,
verstört und vor allem ihre Phantasie ergreift, um sie möglichst fest in den
durch den Text vermittelten Glauben einzufassen. Wobei sich von selbst versteht,
dass die Übersetzungen zugleich Interpretationen und meist auch Manipulationen
des zugrunde liegenden Textes waren - vorgenommen, um diesen an den jeweiligen
Geist der Zeit anzupassen. Das Ziel der Übersetzungen waren also weniger ihre
Wortwörtlichkeit und ihr originalgetreuer Ton und Rhythmus, sondern die möglichst
eindringliche Vermittlung der Botschaft.
Mit
dem Wandel und Verlust der Religiosität wurde auch das Interesse an der Bibel
ein anderes. Nachdem zunächst die historische Exegese die testamentarischen
Schriften als vorrangig geschichtliche Dokumente untersucht hatte, erhoben
sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Stimmen, welche die Bibel insbesondere
als genuin literarische Schöpfung preisen. Was schliesslich
dazu führte, dass die neueren Übersetzungen nach und nach aus den Händen der
Theologen in die der Historiker, Sprach- und Literaturwissenschafter sowie
Schriftsteller überzugehen begannen.
Inmitten
dieser modernen Übersetzungsbewegung ist in diesem Herbst von zwei Verlagskonzernen
aus Frankreich bzw. Quebec eine Neuübersetzung der Bibel herausgegeben worden,
deren Verwegenheit ihresgleichen nicht kennt. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens
wurden 1996 zwanzig namhafte Schriftsteller und Poeten der französischen Sprache
eingeladen, jeweils in Gemeinschaft mit einem Exegeten ein oder mehrere Bücher
der Bibel zu übersetzen. Zwanzig Schriftsteller, die ihr Sprachtalent einbringen
sollten, um dem Buch der Bücher einen modernen, zeitgenössischen Ausdruck
zu verleihen. Zwanzig Schriftsteller, von denen nur die wenigsten einige Kenntnisse
der biblischen Originalsprachen besassen, die aber als Handwerker des Wortes gebraucht wurden.
Zwanzig nicht unbedingt bibelfeste Schriftsteller, die nach ihrem persönlichen
Stil ausgewählt wurden, damit die testamentarischen Bücher in ebendiesem individuellen
Stil ein modernes Gewand fänden. Denn man glaubte, dass zwischen der modernen
Literatur und der Schriftsprache der alten Hebräer und Griechen eine ganz
erstaunliche Ähnlichkeit oder gar Verwandtschaft bestehe.
Der
jeweilige Exeget, mit dem jeder Schriftsteller zusammenarbeitete, übersetzte
das entsprechende Bibelbuch zunächst Wort für Wort und versah diese Rohfassung
mit Kommentaren und Erklärungen. Aus diesem Material fertigte der Literat
sodann eine erste «poetisierte» Fassung, die der Exeget dann wiederum auf
wissenschaftliche Korrektheit hin besah und mit neuerlichen Anmerkungen an
den Schriftsteller zurückgab. Und dies so lange, bis die wissenschaftliche
Originaltreue und die Stilfreiheit des Schriftstellers
zu einem Konsens gefunden hatten, wobei jedoch der
Wissenschafter stets das letzte Wort behielt.
Die
bei diesem Vorgehen erlangten Resultate schwanken recht erheblich von Buch
zu Buch und Schriftsteller zu Schriftsteller. Ganz allgemein lässt sich allerdings
feststellen, dass von den Texten eine gewisse Kälte ausgeht, ein Geruch erkalteter
Asche, der aus der porösen Oberfläche geschickt zueinander gestellter Wörter
dringt. Geschwächt scheint die Kraft, welche die unauslöschlichen Bilder evoziert,
von denen Gedanken und Phantasie immer wieder angetrieben wurden. Die Übersetzung
liest sich über weite Strecken wie eine Sammlung zeitgenössischer Texte, deren
Sprache sich jedoch nur eingeschränkt mit deren Inhalt assoziieren lässt.
Sehr
«modern»
Wo
die grossen Bibelübersetzungen, wie jene von Buber und Rosenzweig, die Sprache aus- und erschöpfen und
wo jene bedeutenden protestantischen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts, wie
die von Luther oder Tyndale (King-James-Version),
geradezu sprachgründend wurden, mutet ausgerechnet
die französische «Schriftsteller- Übersetzung» allzu konservativ an und scheint
von einem verarmten Sprachschatz zu zeugen. Während die literarische Kunst
der Bibeldichtung insbesondere darin besteht, die mysteriöse Stimme eines
Unnennbaren beständig mitschwingen zu lassen und die Ungewissheit des «Wer
spricht?» wach zu erhalten, scheint die vorliegende Übersetzung gerade den
Klang des Unfassbaren zu übertönen. Zu deutlich kommt die Stimme der zwanzig
Schriftsteller aus dem Heute, von gleich nebenan, und sie ist zu offensichtlich
literarische Stimme, obwohl sich die Kunst der Originalbibel doch gerade auch
darin zeigt, dass sich ihre Literatur in sich selbst verbirgt.
Aber
so kritisch man diesem Projekt auch gegenüberstehen mag, man sollte sich nicht
alle Bewunderung für dieses Werk ausreden lassen. Einige der interessantesten
Schriftsteller der französischen Sprache haben mehr als fünf Jahre lang ihre
schöpferische Energie und ihr Talent für eine Begegnung der zeitgenössischen
Literatur mit dem historisch einflussreichsten Buch der Menschheit eingesetzt.
Und schliesslich wird der modernen Poesie und Prosa
auf diesen 3200 Seiten nicht zuletzt die seltene Chance zuteil, einen Ort
der Sammlung und Aufmerksamkeit zu finden.
Den
deutschsprachigen Lesern sind von jenen Literaten leider nur die wenigsten
bekannt, da sie zu einer Art der französischen Literatur gezählt werden, die
in hiesigen Landen die grösseren Verlagshäuser fast
einhellig abschreckt. Obwohl sie also in ihrer Heimat schon seit Jahren mit
den höchsten Literaturpreisen dekoriert werden, sind von den zwanzig bisher
nur François Bon, Emmanuel Carrère, Jean Echenoz, Valère Novarina sowie Jacques Roubaud auf
Deutsch erschienen.
Bleibt
zu vermerken, dass die 100 000 bereits im ersten Monat verkauften Exemplare
dieses sechs Millionen Euro teuren Werkes eine neue Debatte über die Bibel,
ihre Literatur und ihre Übersetzungen ausgelöst haben, so dass auch andere
Bücher aus diesem Themenkreis auf ein wachsendes Leserinteresse stossen. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang insbesondere
die Neuübersetzung der Psalmen, die vor einigen Monaten von Henri Meschonnic veröffentlicht wurde. Diesem Dichterdenker und
intimen Kenner des Hebräischen gelingt es, die geheimnisvolle Kraft des Originals
zu bewahren und die multiplen Textschichten mit neuen Wort- und Satzgebilden
sowie Klang- und Sinnmustern im Französischen zu rekonstruieren. Womit er
nicht zuletzt aufzeigt, was in den nächsten Jahrzehnten noch an Übersetzungen
der Bibel zu erwarten bliebe.
Hans-Peter Schmidt
La Bible - Nouvelle Traduction. Unter Leitung
von Frédéric Boyer, Marc Sevin
und Jean-Pierre Prevost. Bayard-Press,
Paris 2001. 3170 S., fFr. 295.-.
Gloires. Übertragen von Henri Meschonnic. Editions Desclée de Brouwer, Paris 2001. 555 S.,
fFr. 145.-.
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