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Mephisto, Abraham, Sodom

ein Brief von Hans-Peter Schmidt

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Sehr verehrter Herr Anderegg!
Ihre Interpretation Mephistos nicht als Kontrapunkt zu Gottes Güte, sondern als Lichtträger, der die nur zu gern übersehene Ambivalenz Gottes sichtbar werden läßt, ist nicht nur für das Verständnis von Goethes Faust von unüberschätzbarer Wichtigkeit, sondern ebenso für die gern übersehene Kunst der Bibel, die aus der Unersichtlichkeit Gottes eine Figur dichtet, die erst in ihrer existentiellen Ambivalenz als Verursacher und Lenker irdischen Daseins herhalten kann. Am deutlichsten zeigt sich dies darin, daß in der Genesis nicht nur Abraham von Gott geprüft wurde, sondern daß Israel kraft der Abraham Figur auch seinerseits - dank seines literarischen Geistes - Gott prüfte und dessen offensichtliche Ambivalenz hinterfragte, bevor es den ewigen Bund mit ihm einging. Gleichwohl die gegenseitigen Erprobungen von Israel und Gott an mehreren Stellen der Torah literarisch inszeniert wurden, werden diese in den Geschichten um Abraham am deutlichsten, da dort, neben den Szene am Berge Sinai, die Ambivalenz Yahwes am deutlichsten entfaltet wurde. Als Sie auf Seite 4 ihres Essays die Auslegung der Philemon und Baucis Szene begannen und auf die Heimsuchung durch Mephisto und seine drei Gewaltigen kamen, fiel mir auf, wie diese faustische Entwicklung am Ende des Dramas auf zwei ähnlich strukturierten Szenen aus den Abraham Geschichten zu spiegeln scheint:

Eine unmittelbare Parallelgeschichte zu Goethes Philemon und Baucis Szene läßt sich in der Abraham Geschichte zwar nicht erkennen, doch tauchen zahlreiche Elemente auf, die Assoziationen zur Geschichte Abrahams ziehen lassen. Abraham und Sarah sind das Urbild des kinderlosen, gerechten Paars, dem Gott Besuch abstattet. Wo Goethe einen Lindengarten zeichnet, übersetzte Luther die Eichen von Mamre. Gott erscheint, als er Sarahs kommende Schwangerschaft verkündet, ebenfalls mit 3 Gesellen. Die Gesellen bleiben stumm, nur Gott spricht. Als Gott sich mit seinen Gesellen vom Tisch erhebt und die Gesellen bereits vorausgehen, wendet Gott sich noch einmal um, um Abraham von seinem Plan gegen Sodom zu berichten. Worauf die berühmte Diskussion zwischen Mensch und Gott über Gottes Kollektivvergeltung und des Menschen Forderung nach individueller Gerechtigkeit folgt.
Nach Sodom kommen nicht drei, sondern nur zwei Maleakim, ihr Wirken der Vernichtung ist gleichwohl ähnlich wie in 11360-11370. Zwar werden Lot und seine Frau nicht zu Tode erschreckt, die Vertreibung aus der Heimat ist aber gleichwohl die Folge. Die Stadt steht in Flammen und bringt, wie zu Faust, „Rauch und Dunst zu mir heran“. Und als Lots Frau sich umkehrt: „vor Schrecken fiel sie entseelt“.
Über diese Assoziationen zu Abraham hinaus, halte ich es für durchaus naheliegend, daß am Ende der großen Faustischen Dichtung, wo Mephisto, wie Sie so überzeugend darlegten, deutlich als Gottes dunkle Hälfte erscheint, ein Bezug zu Sodom hergestellt wird. Denn ist nicht die Zerstörung Sodoms neben der Sturmflut Noahs, auf die die Rettung des Schiffbrüchigen ( sowie 11220-11255) hinweist, das scheinbar „mephistophelischste“ Wirken Gottes in der Torah?

Dies, sehr verehrter Herr Anderegg, eine bescheidene Idee, die mir beim Lesens Ihres so spannenden Aufsatzes als Abzweig in andere Richtung kam. Ihnen sehr herzlich dankend, verbleibt hochachtungsvoll
Ihr Hans-Peter Schmidt