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Beschreibung des literarischen Ansatzes und seiner Entstehung

von Hans-Peter Schmidt

 

... die Sprache war, bevor in ihr der Gott sich selbst erschaffen ließ. Und indem aus Sprache Er Worte schöpfte, ward die Welt geschaffen. Und Er seinte die Sprache, da Er sie dem Menschen zu Wort kommen ließ...
Als Chateaubriand kurz nach dem Ende der Französischen Revolution im fünften Buch seines "Genie des Christentums" verkündete: Man hat soviel über die Bibel geschrieben und sie so oft kommentiert, daß es vielleicht das letzte Mittel ist, um ihre Schönheit spürbar zu machen, sie in einen Vergleich zur Dichtung Homers zu setzen - da verhallte sein Ruf nahezu folgenlos im Todesgekrächz der Aufklärung.
Gut siebzig Jahre später wurde insbesondere in Deutschland von protestantischen Theologen die historisch-kritische Methode der Bibelhermeneutik begründet. In seiner 1878 erschienen "Prolegomena zur Geschichte Israels" gibt Julius Wellhausen erstmals eine systematisierte Darstellung verschiedener auktorialer Schichten der Bibel, womit Gott endgültig die Autorenschaft seines Buches abgesprochen wurde. Wellhausen und seine Nachfolger (vor allem Martin Noth, Gerhard von Rad) zeigten durch historische und literarkritische Untersuchungen, wie die biblischen Schriften aus verschiedenen Quellen, Traditionen und Zeiten über mehrere Jahrhunderte und redaktionelle Stufen ihre kanonische Form erlangt haben. Die Bibel wird in diesen Forschungen auf ihre Widersprüche in Stil, Theologie und Aktualbezüge untersucht, um diese Widersprüche ebenso wie die in der Bibel häufigen Wiederholungen und Sprünge durch unterschiedliche Entstehungszeiten und Autoren zu erklären. Das Problem dieser in historisch-auktoriale Schichten auflösenden Lektüre besteht allerdings darin, daß man auf der Suche nach der Wahrheit des Buches das Buch zu verlieren scheint, da man nicht mehr weiß, wie man das Buch eigentlich zu lesen hat. Das Buch zerfällt in Partikel, die sich zwar in Tabellen zueinanderordnen lassen, aber keine konsistente Lektüre mehr ergeben. Zudem verliert die Forschung über der Suche nach dem historischen Ursprung die Verbindung zu dem Volk, das sich an und durch diese oral oder schriftliche vermittelten Texte in ein gemeinsames Weltbild fand. Die historisch-kritische Methode stellt gewissermaßen eine Ausflucht aus dem Text dar. Indem sie sich auf die Entstehung des Textes beschränkt, verschließt sie sich der Untersuchung, welchen Einfluß der Text als Text auf sein Leser/Hörer genommen hat.
An diesem Punkt setzt Anfang des 20. Jahrhunderts der formgeschichtliche Ansatz Hermann Gunkels an. Gunkel untersucht die literarischen Gattungen der hebräischen Literatur, um das Buch aus der neutralen Geschichtlichkeit wieder in die schöpferische Dynamik einer Volkstradition und den sich daraus entwickelnden literarischen Konventionen zu stellen. Die Besinnung auf die schöpferische Dynamik der historischen Tradition Israels, die Gunkel mit anderen Werken der vorderasiatischen Literatur vergleicht, ermöglichen ihm, das Buch in seiner historischen Komposition als ein Ganzes zu lesen und die Wechselwirkung von Buch und Leser/Hörer in den Vordergrund zu stellen. Doch Hermann Gunkel kam seiner Zeit zu früh und fand für seinen Ansatz weder die gebührende Anerkennung noch direkte Nachfolger.
Tendenziell neue Impulse für die Bibelhermeneutik kamen erst einige Jahrzehnte später vom Romanisten Erich Auerbach, der 1942 im Istambuler Exil die legendäre Niederschrift seiner Mimesis begann. In diesem in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Werk über die Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur widmete er sein erstes Kapitel der Gegenüberstellung von homerischem Epos und Altem Testament. Anhand vergleichender Analysen von Abrahams Opfer und Odysseus’ Heimkunft extrahierte Auerbach in dichter Argumentation die hauptsächlichen literarischen Methoden und Merkmale der Hebräischen Bibel. Worauf er im zweiten Kapitel die Untersuchung auf die Evangelien ausdehnte und diesen in nicht minder brillanter Ausdeutung manch Einsicht in die weltformenden Sprachmittel abgewann.
Weitestgehend unbemerkt war mit jenen beiden Kapiteln ein erster entscheidender Schritt unternommen, die biblische Literatur unter den Klauen der Religionen zumindest eine Idee weit hervorzuziehen, um einen Blick auf deren schöpferisches Genie zu werfen, vor allem aber, um endlich anzufangen, das Buch der Bücher auch als ein Buch zu lesen.
Denn obwohl Auerbachs Studie bald internationale Aufmerksamkeit erregte, seine literarischen Betrachtungen der Bibel sollten erst Ende der 70er auf fruchtbaren Boden fallen. Zwar hatten zwischenhin einige Theologen auch literarische Interpretationsmethoden zur Anwendung gebracht (u.a. A. Schöckel, N. Lohfink, T. Thompson, J. Fokkelman), die entscheidende Entfaltung der Thematik vermochten sie freilich nicht zu geben. Dies gelang erst von Seiten der aus dem Strukturalismus erwachenden Literaturwissenschaft und da insbesondere säkularen jüdischen Denkern, denen nicht nur das Privileg althebräischer Sprachkenntnisse, sondern vor allem der intime, gewissermaßen identitätsstiftende Bezug zur Bibel und ihrer Tradition zu eigen ist. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Glaubenskrise bibelfester Gelehrter zur historisch-kritischen Exegese führte, schien nun am Ende des 20. Jahrhunderts die literarische Exegese den Weg zu einer neue Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Buch des Monotheismus zu öffnen.
Das erste Aufsehen erregende Buch über "Die Kunst der biblischen Erzählung" veröffentlichte 1978 der amerikanischen Komparatist Robert Alter. Anhand ausführlicher Textbeispiele vor allem aus der Genesis und den beiden Samuel-Büchern weist Robert Alter nach, in welch höchst raffinierter Art die biblischen Erzählungen literarisch komponiert wurden. Auf dem Weg in den Text der Heiligen Schrift gelingt es ihm, eine Vorstellung davon zu erzeugen, welch feingestaltige literarische Konvention in der Zeit zwischen 800 und 600 v.u.Z. vorgeherrscht haben mußte und wie diese es offensichtlich überhaupt erst ermöglichte, mit subtilstem Einsatz der Mittel immens weltöffnende Wirkung zu erreichen.
Entgegen der historisch-kritischen Exegese, die die Bibeltexte in Schichten und Partikel zerlegt, um diese sodann verschiedenen, sich gegenseitig nur allzu oft widersprechenden Autoren zuzuordnen, sieht Alter die Texte als ein einheitlich Ganzes an. Ein Ganzes, das von Schlußredakteuren mit aller Bedacht als ein solches komponiert worden ist.
Dieser Annahme folgend, weist Robert Alter nach, wie die häufigen Wiederholungen von Worten, Szenentypen, Bildern und Dialogstücken keineswegs Fehlstellen sind, sondern absichtlich eingesetzte Formen und Rhythmen darstellen, die gerade da, wo sie von der exakten Wiederholung abweichen, erweckende Bedeutung gewinnen. Des weiteren beschreibt er, wie die Kunst des Verschweigens und die des Abbruchs inmitten eines Dialoges nicht Folge verlorener Manuskriptstellen sind, sondern bewußt eingesetzte Fehler im Webstück der roten Fäden, die gerade als solche jene besondere Wirkung ermöglichen, die häufig die eines zu Ende räsonierten Diskurses übersteigt.
In einem anderen Kapitel präsentiert er die Beziehung zwischen Gesagtem und Verschwiegenen als eine Spannung, die zwar, wie in der Geschichte zwischen Josef und seinen Brüdern, auf eine Entladung zusteuert, die aber, wenn diese schließlich eintritt, weit tiefere Wunden hinterläßt, als die Narbe der Versöhnung vermuten läßt. Er erläutert und illustriert die verschiedenen Spielformen allgemeiner Grundtypen, in denen die in der Geschichte auftretenden Personen charakterisiert werden. Und zeigt, wie zum Beispiel ein Satz, erst wenn er in direkter Rede ausgesprochen, zur Verwirklichung der Aussage wird.
Wenn Robert Alter im letzten Kapitel schlußfolgert, dass die biblischen Autoren zu den Begründern der fiktiven Prosa gehören, erscheint diese Aussage nicht mehr als lediglich provozierende Hypothese, sondern als eine Diagnose, welche die Literatur wieder in ihr Schöpferrecht stellt. Artverwandt mit dem allsehenden und allwissenden Gott des Monotheismus ermöglicht die literarische Prosa die gleichzeitige Vielfalt der Perspektiven, durch die sich die Komplexität des menschlichen Daseins in einer göttlichen Ganzheit des Seins in Erscheinung bringen läßt.
In der Folge seiner Argumentation gibt Robert Alters Abhandlung nicht zuletzt den weitreichenden Anstoß für eine bannende Untersuchung über die Wechselbeziehungen zwischen Monotheismus und erzählender Prosa, die sich, wie nur allzu deutlich wird, gegenseitig bewirkt haben müssen.
Zu den bedeutendsten Vertretern dieser neuen Betrachtungsweise der Bibel gehören insbesondere der Englisch schreibende Israeli Meir Sternberg sowie der Engländer Frank Kermode.
Sternberg legte in seiner umfangreichen, 1985 erschienene Studie "Die Poesis der Biblischen Erzählung" eine erste systematischen Darstellung der in der Bibel zur Geltung kommenden literarischen Mittel vor. Dabei beklagt er jedoch zunächst eine gewisse literaturkritische Bibelmode, welche die Bücher der Testamente nur unter formellen Gesichtspunkten betrachtet und fast gänzlich außer Acht läßt, wie die Ästhetik des Werkes im Kontext ideologischer und historiographischer Intentionen steht. Seiner Ansicht nach scheitert der literaturanalytische Ansatz, wo verkannt wird, dass die Bibel kein lediglich zum ästhetischen Selbstzweck verfaßtes Buch ohne Autor ist. Sondern dass es sich um ein Werk handelt, welches sich literarischer Mittel bedient, um das eigentliche Drama der Lektüre zu bewirken. Was bedeutet, das die Autoren versucht waren, durch literarische Strategien die Botschaften des Textes im Leser selbst zu erzeugen. Es sollte dem Bibelleser also dank der auf ihn einwirkenden literarischen Komposition der innere Zwang ausgelöst werden, sich auf im Text angelegte Bahnen des Ausdeutens zu begeben. So dass dem Leser in diesen Wortläufen des Grübelns, ganz in ihm selbst, jene Wahrheit gedacht wird, die nur implizit und nicht explizit ausgedrückt werden kann.
Der Leser also wird dank ästhetischer Eröffnungen, fiktionaler Abwege und historischer Anbindungen dazu gebracht, eben das zu denken, was er, wenn es ihm nur einfach und vernünftig erklärt würde, nicht glauben könnte.
Aus diesen Annahmen folgt für Sternberg die Notwendigkeit, die Bibel nicht nur als ein literarisches Werk zu betrachten, sondern sie auch in ihrem konkret historischen Kontext auf deren Wirkungen zu untersuchen. Die Analyse des biblischen Diskurses verlangt seiner Ansicht nach die Bezugnahme auf das vorherrschende Sprachsystem, ihr kulturelles Milieu, deren Datierung, die Entwicklung innerhalb eines Kanons, deren Ursprünge und Überlieferungen. All diese Bezüge sind Parameter des Kontexts, durch den sich das biblische Werk in seinen Bedeutungshorizont kleidet und die Fäden des Sinns durch den Text verfolgen lassen.
Auf diese Basis wird der überwiegende Teil des Buches dann den eigentlich literarischen Strategien gewidmet. Dabei stützt sich Sternberg auch auf Vergleiche zu Faulkner, Fielding, Joyce und anderen, insbesondere aber zu den Romantechniken von Henry James, dem wohl herausragendsten unter den Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich praktisch wie theoretisch um eine Theorie fiktiven Erzählens bemühten.
Wo Meir Sternberg mit wissenschaftlicher Genauigkeit brilliert, um sein Rahmenwerk für eine neue Exegese so stichfest wie unwiderlegbar zu präsentieren, nimmt sich Frank Kermode in seinem Buch "Genesis des Geheimen" die Freiheit, mit großzügigerem Schwung durch die Krämerläden der Wahrheitshuber zu fegen. Parallel zu Robert Alters Betrachtungen des Alten Testaments war Kermode 1978 einer der ersten, der sich den Evangelien von Seiten der vergleichenden Literaturwissenschaft näherte. Mit seinem so eloquent wie inspirierenden Buch löste Kermode ebenso wie Alter eine Vielzahl ihm nachfolgender Studien aus, und so war es nur folgerichtig, als sich beide Ende der achtziger Jahre zur Herausgabe eines "Literarischen Leitfaden zur Bibel" zusammenfanden. In diesem Buch, das knapp dreißig Literaturwissenschaftler und Theologen versammelt, wird zu jedem Buch der beiden Testamente je eine literarische Analyse entwickelt. Trotz der enzyklopädischen Verfaßtheit, die sich auf die Untersuchung der hauptsächlichen Kompositionslinien beschränkte, bietet dieses Buch doch eine hervorragende Zusammenfassung der literarischen Bibelstudien und kann mithin zum Kanon der nützlichsten Nachworte der jeweiligen Gottesbücher gezählt werden.
In den neunziger Jahren haben sich die Studien auf diesem Gebiet nochmals vervielfacht und langsam auch begonnen, die Grenzen des Englischsprachigen zu überwinden. Doch im Gegensatz zu Frankreich und Italien ist in den deutschsprachigen Ländern noch kein einziger der grundlegenden Texte zu Bibel und Literatur übersetzt worden. Unter den hiesigen Theologen ist ein merkliches Echo auf diese Bewegung verständlicherweise ausgeblieben, und die anderen, die Nicht- oder Kaumgläubigen, nehmen, als ob an übler Kindheitserinnerung würgend, nur allzu oft ihr Reißaus, wo sie sich aufgefordert sehen, das alte Legendenbuch wieder zur Hand zu nehmen.
Doch die literarisierende Lektüre der Bibel bedeutet gerade auch eine Befreiungsbewegung weg von der ideologischen Vereinnahmung eines Buches, das Jahrtausende so direkt zum Herzen sprach, dass es mit dem Herzen fast machte, was immer es wollte. Die Bibel trotz der Bibel zu lesen, das eben ist die doppelte Rebellion gegen die Ideologen, Verklärten und Fanatisten, die den Gott erschufen und sich seiner bedienen, sowie gegen die Philosophen, Luziden und Ignoranten, die ihn schonungslos vernichten.
Die Bibel ist nicht nur das meistgelesene Buch der Geschichte, sie ist auch das Buch, welches wie kein anderes die Literatur aller ihr folgenden Epochen direkt beeinflußte, prägte und mitinspirierte (müßig, zwischen Cervantes, Stevenson, Dostojewski und Kafka nahezu jeden bedeutsamen Schriftsteller einzureihen). Mit dem durch das Absterben der Religion einhergehenden Verlust der Bibellektüre und Bibelkenntnis droht auch das Verständnis für den größten Teil der okzidentalen Literatur und Kunst und Musik verloren zu gehen. In diesem Sinne ist Widerstand gegen den Verlust der Bibel Widerstand gegen den Verlust unseres Kulturerbes. Die Entdeckung der Bibel als literarisches Kunstwerk wäre insofern als einer der bedeutendsten kulturellen Lichtmomente der letzten beiden Jahrzehnte zu feiern. Bleibt zu hoffen, dass dieses Licht auch in deutscher Sprache bald in die Höfe der Finsternis zu blinzeln kommt.