Home

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Gotteswort und Menschenrede

Die Bibel im Dialog mit Wissenschaften, Künsten und Medien

aus der Einleitung des Buches

von Ralf Georg Czapla und Ulrike Rembold

mit freundlicher Genehmigung des Verlages Peter Lang

Als ein von Menschenhand zusammengestellter Kanon von Schriften ist die Bibel als solche bereits das Resultat der Verständigung und des Dialogs. Wie sie seit ihrer Entstehung ihre Wirkung als schier unerschöpfliches Stoffreservoir und als Lebensbuch entfaltet hat, so haben ihre Verfasser Traditionen des Weltverständnisses und der Welterklärung in sie zu integrieren gewußt, deren Rekonstruktion nicht nur zu einem vertieften Verständnis ihrer Entstehungszeit, sondern insbesondere ihrer selbst verhilft.
Der vorliegende Sammelband vermittelt einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Auseinandersetzung mit der Bibel in verschiedenen Bereichen und Epochen ihrer Rezeptionsgeschichte bis hin zur Moderne und berührt auch Fragen des Bibelverständnisses in heutiger Zeit. Die Beiträge dokumentieren die Ergebnisse einer Ringvorlesung, die im akademischen Jahr 2003-2004 in Verbindung mit dem Graduiertenkolleg Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung an der Universität Tübingen veranstaltet wurde und deren erklärtes Ziel es war, die wissenschaftlichen Disziplinen in einen Dialog miteinander treten zu lassen, um die zwar verschiedentlich beklagte, selten aber energisch revidierte eindimensionale, weil auf die Grenzen des jeweils eigenen Faches beschränkte Perspektive zugunsten eines interdisziplinären Dialogs zu überwinden. Die Vorlesungsreihe, die unter dem Titel Die Bibel und ihre Wirkung – Einblicke in die Rezeptionsgeschichte stand, nahm dabei ein Spektrum biblischer Wirkungsgeschichte in den Blick, das zwar denkbar weitläufig erschien, der Gefahr der Beliebigkeit aber durch die Interdependenz und die Vielfalt der einzelnen Vorträge zu entgehen vermochte, wie auch der gleichbleibend rege Zuspruch des Publikums dokumentierte.
Der Band, der durch Beiträge aus den jeweiligen Arbeitsgebieten der Kollegiaten ergänzt wurde, geht aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen der Frage nach dem dialogischen Verhältnis von Wissenschaften, Künsten und Medien zur Bibel nach. Wer die Beiträge des Bandes in der Chronologie ihrer jeweiligen Themen liest, dem wird nicht verborgen bleiben, wie Latinistik (Gruhl), Germanistik (Czapla), Judaistik (Morgenstern), Islamwissenschaft (Radscheit), Medienwissenschaft (Mertin/Schneider-Quindeau), Musikwissenschaft (Koldau), Kunstgeschichte (Telesko), Pädagogik (Lehnen) und Theologie (Eberhart, Elliott, Helmer, Rabens, Strube, Werbick) in einen fruchtbaren Dialog miteinander treten und sich in dem Bestreben ergänzen, Entstehung und Rezeption des einen gemeinsamen Referenztextes, der Bibel nämlich in ihrer Einheit von Altem und Neuem Testament, zu veranschaulichen.
Die Beiträge von Christian A. Eberhart und Volker Rabens sind innerbib¬lischen Rezeptionsprozessen gewidmet. Eberhart zeigt, wie die alttestamentliche Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) im Neuen Testament rezipiert worden ist, wobei er auch verschiedene Ausformungen dieser Erzäh¬lung innerhalb der jüdischen Tradition diskutiert, auf die die neutestament¬liche Überlieferung unmittelbar Bezug nimmt. Um zu klären, warum Gen 22 in der Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments kein zentraler Referenztext geworden ist, untersucht Eberhart speziell den Begriff des Opfers, der sich biblisch in victima und sacrificium ausdifferenziert. Während die Erzählung von Abrahams Opfer nur einmal im Neuen Testament herangezogen wird, um Jesu Sterben zu deuten (Röm 8,32), stellen andere neutestamentliche Rückgriffe auf Gen 22 entweder keinen christologischen Bezug her oder werden nicht unmittelbar mit der Passion bzw. der Metapher des „Opfers“ Christi in Verbindung gebracht. So bestätigen diese Beobachtungen auf ihre Weise, daß im Rahmen der Erzählung von Abrahams Opfer nach Gen 22 Aspekte des kultischen Opfers (sacrificium) nicht im Zentrum stehen.
Rabens geht der Frage nach, was ‚coming out‘ für eine christliche Hausgemeinde in einer multireligiösen Hafenstadt bedeutet hat, wird doch ein ‚coming out‘ in 2 Kor 6,14-7,1 vom Leser unter Berufung auf die Hebräische Bibel gefordert. Um die zentralen Aussagen dieses kontrovers diskutierten Abschnitts richtig deuten zu können, beschäftigt sich Rabens in den ersten beiden Teilen seines Beitrags mit der umstrittenen Frage nach dem Verfasser sowie der kontextuellen Verortung der Textpassage, ehe er im dritten Teil die paulinische Aufforderung, mit Ungläubigen nicht „an einem fremden Joch“ zu ziehen, näher untersucht. Es wird deutlich, daß hierbei vor allem enge Partnerschaften im Kontext heidnischer Religiösität im Blick sind. Der Apostel vergegenwärtigt den Christen in Korinth, daß sich ihre Identität durch die in ihrer Bibel verheißene Erfahrung der intensiven und liebevollen Beziehung zu Gott konstituiert. Aus dieser neuen Identität heraus können und sollen die Empfänger des Briefes aus unguten Beziehungen „herauskommen“.
Mark W. Elliott zeigt in seinem patristischen Beitrag, daß die Kirchenväter in ihren Kommentaren zu Jes 40-66 den Bibeltext eher unter soteriologischem als unter christozentrischem Blickwinkel interpretiert haben und führt diesen Umstand zum einen auf theologische Tendenzen der Septuaginta und zum anderen auf den Rückgriff auf unterschiedliche griechische und lateinische Übersetzungen des hebräischen Textes zurück. Elliott diskutiert die jeweiligen Interpretationen hinsichtlich der Bedeutung, die diese den historischen, didaktischen, moralischen, spirituellen und eschatologischen Dimensionen der Prophezeiungen beigelegt haben. Am Beispiel von Eusebius, Origenes und Hieronymus legt er dar, welchen Einfluß umgekehrt der biblische Text und seine Bilder auf die Interpretationen der Kirchenväter hatten und wie er sich auf deren Rede über Christus auswirkte.
Werner Telesko nimmt in seinem kunsthistorischen Beitrag die mittelalterlichen Bibelillustrationen in den Blick. Die gattungsspezifische Besonderheit der Bibel im Hinblick auf künstlerische Ausstattungen besteht darin, daß sie die Vorstellung des einen Buches, eben des Buches aller Bücher, vermittelt. Die Grundtatsachen christlicher Heilsgeschichte sind auch für die Bibelillustration seit ihren Anfängen von essentieller Bedeutung: Da sich die Heilsgeschichte für den Christen als lineare Entwicklung in der Zeit darstellt, wird sie in der bildenden Kunst, konkret in den Bibelillustrationen, zumeist in narrativer Form, als zeitlicher Ablauf und somit in Gestalt von „Erzählfolgen“ präsentiert. Mit der Anwendung der Typologie für die Bibelillustration eröffnen sich jedoch neue Möglichkeiten in der Darstellung des Heilsgeschehens. Es kommen dabei Erzählstrukturen zur Anwendung, die zeitlich weit Auseinanderliegendes miteinander verknüpfen und zur Grundlage neuer Lebenswirklichkeiten machen. Während die Romanik die Einheit beider Testamente – vor allem in Gestalt von „Riesenbibeln“ – aus kirchenpolitischen Gründen in den Vordergrund stellte, brachte die Gotik einen Umschwung in den künstlerischen Akzentsetzungen der Illustrationen: Dekorationen mit Initialen und Randleisten- bzw. die Rahmenornamentik gewannen nun massiv an Bedeutung. Gegen die romanische Mode, in eigenen „Bildseiten“ dem monumentalisierten Erzählungsdrang zu huldigen, setzte eine gegen den Überschwang von Bild und Ornament gerichtete Opposition ein, die filigrane Wort-Bild-Synthesen bevorzugte.
Mit dem Arabischen als einer lingua sacra befaßt sich der Beitrag des Islamwissenschaftlers Matthias Radscheit. Die linguistische Situation Mesopotamiens vor der arabischen Expansion stellt sich als komplexes Nebeneinander verschiedener Umgangs-, Verwaltungs- und Liturgiesprachen dar. Nach der Eroberung des Vorderen Orients durch die Araber im 7. Jahrhundert jedoch setzte sich Arabisch in einem Jahrhunderte währenden Prozeß auch unter Juden und Christen weitgehend durch. Während die Umgangssprache durch Dialekte neuarabischen Typs geprägt war, orientierte sich die Schriftsprache, insbesondere der Muslime, an der ‘arabiyya, dem Klassischen Arabisch. Diese Diglossie besteht u.a. deshalb bis heute, weil die ‘arabiyya Muslimen als lingua sacra gilt. Neben der kultischen oder rituellen Präsenz eines oft archaischen Idioms ist das Phänomen der lingua sacra dadurch charakterisiert, daß den Gläubigen der besondere Rang dieses Idioms bewußt ist. Dies zeigt die nordarabische Isma‘il-Legende, derzufolge dem arabischen Ahnherrn die ‘arabiyya in einem Wunderakt eingegeben wurde. Durch die Propagierung der ‘arabiyya als lingua sacra konnte Arabisch gegenüber konkurrierenden Sprachen behauptet und die Arabisierung der eroberten Gebiete vorangetrieben werden.
Der Klassische Philologe Reinhart Gruhl wendet sich mit Salomo einer Gestalt zu, die sowohl innerhalb der Bibel als auch in ihrer Rezeption bis einschließlich der Barockzeit ambivalent gekennzeichnet ist. Weise und friedliebend auf der einen Seite, offenbart der König auf der anderen Seite mit seinem Hang zu fremdländischen Frauen und zum Götzendienst Wesenszüge, die schließlich zum Zerfall des Reiches führten. Daß kaum eine literarische Form zur ästhetischen und ethischen Auseinandersetzung mit Salomo besser geeignet war als der im 17. Jahrhundert in Italien (Tesauro) im Rahmen der sogenannten Argutia-Bewegung entstandene und sehr bald in ganz Europa beliebte Typus der inscriptio arguta, der „scharfsinnigen Inschrift“, zeigt Gruhl paradigmatisch durch die vergleichende inhaltliche und stilistische Analyse dreier lateinischer Inschriften (Tesauro, Mascolo und Schmidlin), wobei er weitere, zumeist zeitgenössische Rezeptionszeugnisse (u.a. Alsted, de Guevara, Kircher und Thomasius) miteinbezieht.
Mit Johann Joachim Gottlob Am-Ende (1704-1777) stellt der Literaturwissenschaftler Ralf Georg Czapla eine der profiliertesten Gestalten des sächsischen Kirchen- und Bildungswesens des 18. Jahrhunderts vor. Am-Ende wirkte als Lehrer in Schulpforta, wo er u.a. Klopstock unterrichtete, stand in Kontakt zu den Dichtern (u.a. Hagedorn) und Gelehrten seiner Zeit und erwarb sich als Superintendent von Dresden sogar die Wertschätzung Friedrichs II. Mit der Christeis, einer epischen Paraphrase der Apostelgeschichte, gelang ihm eine dichterische Leistung, die sogar noch seine Übersetzungen von LaBruyères Les caractères de Théophraste und Popes Essay on Man übertraf. Ihre Bedeutung erlangte sie vor allem als Adhortationsschrift für die Dresdner Bürger während des Siebenjährigen Krieges.
Im Jahr 1882 veröffentlichte der russische Komponist und Pianist Anton Rubinstein (1829-1894) einen Aufsatz, in dem er sein Konzept einer „geistlichen Oper“ als einer eigenständigen dramatischen Gattung darlegt, in der die biblischen Stoffe des traditionell nicht-szenischen Oratoriums durch speziell dafür ausgebildete Fachkräfte auf der Bühne dargestellt werden. Tatsächlich können die fünf Opern, die Rubinstein auf biblische Sujets komponierte, dem Anspruch einer eigenen Gattung jedoch nicht standhalten. Um so aufschlußreicher ist der Umgang des Komponisten und seiner Librettisten mit dem biblischen Stoff: Der Handlung und den Personen des Alten und Neuen Testaments wird die religiöse Verankerung genommen, es geht lediglich um das Drama der Beziehungen und die heroisch-tragische Darstellung der Personen. Diesen Prozeß der „Entgeistlichung“ stellt die Musikwissenschaftlerin Linda Maria Koldau am Beispiel der Opern Moses op. 112 (1887-1889, Librettist Salomon Hermann Mosenthal) und Christus op. 117 (1892-1894, Librettist Heinrich Bulthaupt) dar, deren Libretti überdies in einer kritischen Edition vorgestellt werden.
Der Judaist Matthias Morgenstern befaßt sich mit der Bibel als Medium der Kulturrevolution. Der Neubeginn der hebräischen Literatur in Osteuropa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war geprägt von dem überragenden Wunsch, die Last der jüdischen Exilssituation abzuschütteln. Dem Abschied von der als morbide empfundenen Welt des Talmuds entsprach aber eine Neuentdeckung der Hebräischen Bibel, die den jüdischen Kulturrevolutionären – mit ihrer dezidiert nichtreligiösen Hermeneutik – Quelle der Inspiration und Hoffnung war. Von ihr her wollten die jüdischen Schriftsteller die hebräische Sprache erneuern, konstruierten sie ein neues diasporakritisches Geschichtsverständnis, erschlossen sie sich eine neue Sicht auf die alt-neue Heimat „Kanaan – Palästina – Erez Israel“ und postulierten sie ein zu erneuerndes „hebräisches“ Volkstum. Erst das beispiellose Verbrechen der Schoah hat die Generation der Enkel dieser frühen Zionisten dazu veranlaßt, im Hinblick auf die zuvor verachtete Diasporawelt einen Perspek¬tivwechsel vorzunehmen. Im Werk von Amos Oz wird das Pathos der an der Bibel orientierten zionistischen Kulturrevolution ironisch aufgehoben.
Ralf Georg Czapla zeigt in seinem zweiten Beitrag, wie sehr führende Nationalsozialisten, sofern sie sich als Dichter verstanden, in ihren literarischen Texten auf Biblisches Bezug nahmen. Geschah dies beim jungen Joseph Goebbels, lange bevor er sich zum Eintritt in die Politik entschloß, vor allem deshalb, weil er Antworten auf seine Körperbehinderung zu finden hoffte, die ihn seit seiner Kindheit beeinträchtigt hatte, so nutzte Baldur von Schirach den Rekurs auf die Bibel, um durch weithin vertraute Themen und Motive die völkische Bewegung sakral zu erhöhen.
Das Verhältnis von Leser und Text steht im Fokus des Beitrags von Sonja Strube. Zwischen exegetischer Wissenschaft und religiös interessierter Alltags-Bibellektüre scheint oft ein Graben zu klaffen. Einen naheliegenden, wenn auch exegetisch noch ungewohnten Weg zu seiner Überwindung bietet nach Auffassung der Theologin eine qualitative empirische Erforschung heu¬tiger Alltagslektüren, die diese wertschätzt, ihr kritisches Potential gegenüber exegetischen Herangehensweisen hebt und beide Lesarten in einen konstruktiven Dialog miteinander bringt. Literaturwissenschaftliche, rezeptionsorientierte und wirkungsgeschichtliche Forschungen innerhalb der Exegese nehmen bereits den „impliziten Leser“ bzw. die Wirkung eines Bibeltextes auf Lesende vergangener Zeiten (über eine Analyse ihrer Auslegungen oder künstlerischen Umsetzungen) in den Blick, so daß eine aktuelle empirische Forschung nur einen weiteren konsequenten Schritt in diese Richtung darstellt. Auf der Grundlage der dekonstruktivistischen Einsicht in die „Untrennbarkeit“ eines Textes von der ihn lesenden Person lassen sich exegetische Auslegungen und aufgezeichnete existentielle Bibellektüren als „Protokolle eines Dialogs“ zwischen dem Text und den jeweils Lesenden verstehen.
Der Medienwissenschaftler Andreas Mertin zeigt an verschiedenen Beispielen, daß die Bibel zu dem zählt, was man als unentrinnbaren Hintergrund der Popularkultur bezeichnen könnte. Wer die Simpsons, die Clips von Madonna und Metallica oder den Film von Tarantino analysiert, muß die Bibel zur Deutung heranziehen. Wirkungsgeschichtlich erscheint der Einfluß der Bibel dabei größer, als man zunächst annehmen mag, wenn auch nicht immer eindeutig. Wenn es so etwas wie ein massenmediales Entäußerungsprogramm des Christentums in die Gesellschaft gebe, so Mertin, dann sei es heute teilweise bis zur Unkenntlichkeit fortgeschritten, d.h., wenn biblische Inhalte in der Popularkultur vorkämen, dann seien sie oft schon so weit in den kulturellen Gesamtkontext inkorporiert, daß die Rückbindung an die Bibel durch die Rezipienten nur noch selten vollzogen werde.
Nicht die filmische Bibelillustration, auch nicht die explizit religiöse Seite des Kinos, sondern die produktive Konstellation zwischen eigenständiger Filmkultur und biblischer Tradition steht im Mittelpunkt der Überlegungen des filmwissenschaftlichen Beitrags von Werner Schneider-Quindeau. In der literarischen Form des Gleichnisses, das sowohl biblisch und theologisch von großer Bedeutung ist als auch im filmischen Spiel zwischen Fiktion und Realität seinen Ausdruck findet, wird der systematische Ort bezeichnet, an dem sich Bibel und Film begegnen können. Die Offenheit des Gleichnisses lädt ein zu Entdeckungen und Wahnehmungen, die sowohl der biblischen Botschaft als auch den aktuellen Filmen neue Verstehensmöglichkeiten er¬öffnet. Imagination und Phantasie werden durch die wechselseitigen Blicke von Bibel und Film bereichert. Der Film wird gleichnisfähig, die Bibel auf neue Weise wahrnehmungs- und sprachfähig. Damit werden jenseits von dogmatischen Festlegungen und populärer Oberflächlichkeit Spiel- und Freiheitsräume des Denkens dem Sehen und dem Glauben erschlossen.
Im interkonfessionellen Dialog, so der Theologe Jürgen Werbick, hat die katholische Theologie das zwiespältige Erbe eines instruktionstheoretischen Schrift- und Traditionsverständnisses aufzuarbeiten. Schrift und Tradition seien dabei als Kommunikationsräume zu Bewußtsein zu bringen, in denen im Gespräch mit wie in mitunter spannungsreicher Anknüpfung an andere Äußerungen die Lebensbedeutung biblischer Gottesbegegnungen bezeugt wird. Der biblische Traditionsraum ist christlich normativ; in ihm haben sich alle Zeugnisgestalten zu verorten, die sich als christlich ausweisen wollen. Aber er hat nicht nur ein Zentrum, von dem her sich „alles“ erschließen würde. Die kirchliche Tradition ist der Raum, in dem „loci theologici“ aufgesucht werden können: maßgebliche Instanzen und „Gesprächspartner“, die der Gemeinschaft der Glaubenden als Orientierung für ihr Zeugnis hier und jetzt dienen können. Der Umkreis der Gesprächspartner, auf die jeweils zu hören ist, wird nicht durch einen Lehr-Begriff des christlich Verbindlichen bestimmt, sondern durch die leitende Überzeugung, daß nur im „Zusammenhalten“ der hier jeweils „zusammengebundenen“ Zeugnisse und im Sich-Einfügen in diese Zeugnisgemeinschaft hier und jetzt authentisch christliches Zeugnis abgelegt werden kann.
Die gegenwärtige Theologie fordert die Konstruktion einer neuen Gesprächstheorie und -praxis heraus. Regionale Theologien bestimmen weltweit die theologische Landschaft. Die Frage, wie Brücken zwischen Regionen gebaut werden können, beantwortet Christine Helmer in ihrem Aufsatz mit dem Vorschlag eines liberal-theologischen Gesprächsmodells, das dem systematischen Theologen Gordon D. Kaufman verpflichtet ist. Die beiden grundsätzlichen Probleme von Kaufmans Modell, die Überbestimmung des Gesprächssubjekts und die Unterbestimmung des Gesprächsgegenstands, hängen mit seiner These zusammen, daß die Bibel für die mit ihr ins Gespräch kommenden Traditionen keine Autorität beanspruchen kann. Im zweiten Teil des Aufsatzes werden einige Überlegungen über individuelle Perspektive und allgemeine anthropologische Bedingungen des Gesprächs, über psychologische bzw. spirituelle Selbstpflege und Konsens im Blick auf die Bestimmung des Gesprächsgegenstands skizziert. Helmer zeigt, wie die brückenbauende Funktion der biblischen Theologie fruchtbar für eine liberal-theologische Gesprächstheorie gemacht werden kann.
Die Religionspädagogin Julia Lehnen stellt schließlich den Bibliolog als eine Methode der Bibeldidaktik vor, die bei den Leerstellen im biblischen Text ansetzt. Geprägt wurde dieser Zugang durch den jüdischen Literaturwissenschaftler und Bibliodramaleiter Peter Pitzele, der seinen Ansatz als Weiterführung des Midrasch in unserer Zeit versteht. Lehnen erläutert die Grundlagen sowie die einzelnen Schritte des Bibliologs, die es den Mitgliedern einer Gruppe erlauben, sich in den biblischen Text hineinzuversetzen. Am Beispiel einer Unterrichtsreihe zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-31) zeigt sie, daß der Bibliolog für den Religionsunterricht eine bedenkenswerte und aufgrund seiner strukturierten und leitungsorientierten Form auch praktikable Methode ist.

 

Ralf Georg Czapla, Ulrike Rembold
Gotteswort und Menschenrede Die Bibel im Dialog mit Wissenschaften, Künsten und Medien.
Bern, Peter Lang Verlag, 2006. 417S.. EUR (D) 75,20 - ISBN: 3039107674.

Das Copyright des Ausschnitts aus der Einleitung des Buches liegt beim Verlag Peter Lang