Opfer Jesu Opfer Isaac
von Istvan Listo
aus "Liternofar" S.84-89
Im
Prado in Madrid, wohin sie über Genua und Barcelona, erst mit dem Schiff,
dann mit dem Zug gereist waren, hängt ein Bild von Zurbaran, auf dem
ein gebundenes Schaf resigniert entschläft. Augen und Gesichtszüge
wirken eher wie die eines treuen Hundes, weshalb man meinen möchte, das
Schaf würde warten, noch mal über den Kopf gestreichelt zu bekommen.
Widerstand, selbst innerer Widerstand ist nicht zu erkennen. Wäre das
Bild nicht 1635, sondern 1935 gemalt, könnte der Balken, auf dem das
Schaf liegt, auch ein Fließband zur maschinellen Schlachtung sein. Die
Strahler, die das weiße Fell illuminieren, deuteten dann auf Nachtarbeit.
Doch woher mag 1635 das gleißende Licht in Absetzung zum schwarzen Hintergrund
kommen? Kommt es von Gott oder ist ein ästhetischer Trick? Nimmt Gott
das Lamm in Betracht, das er im Morgengrauen als Sündenbock für
alle Menschheitssünden in Empfang nehmen wird? Agnus Dei, Gottes Lamm,
so der auf Jesus weisende Titel. Am Karfreitag hatte Jesus sich als Paschahlamm
in die erste Reihe gestellt. Die Tradition seines Volkes wollte, daß,
zwar nicht an Karfreitag, als Gott in der Wüste zu seinem Volke sprach,
sondern an Yom Kippur ein Lamm geschlachtet und das Blut dieses Lammes ins
Fell eines anderen Lammes gerieben wird. Als Symbol dafür, daß
es die Sünden aller anderen mit auf sich nimmt. Wonach das mit fremdem
Blut verschmierte Lamm in der Wüste zum Krepieren ausgesetzt wurde.
Um so erstaunlicher, wie sündenrein weiß das Fell des Agnus Dei
leuchtet. Gleich der Nacktheit des Leibes Christi am Kreuze. Jesus bekommt
die Sünden der Welt nicht aufgestrichen, sondern nimmt sie in sich auf,
nimmt sie in seine Seele, sein Herz. Nimmt sie in sein göttliches Innen,
um sie aus der Menschheit fort zu führen. In Jesus nimmt Gott die Sünden,
zu denen er die Menschen einst befähigte, wieder aus der Welt fort. Das
Lamm Gottes ist die Hülle oder die Maske, in der Gott die Instandsetzungsmaßname
seiner Schöpfung lenkt. Jesus wird am Kreuz auf dem Berge angenagelt,
so wie der Sündenbock vom Priester in der Wüste angepflockt wurde,
damit Unwetter und Wildtiere leichte Beute hatten und die Sünden in
ihrem teuflischen Heißhunger entsorgten. Am dritten Tag nach der Aussetzung
zog das Volk dann gewöhnlich in die Wüste aus und schaute, ob der
angepflockte Sündenbock auch von Gott geholt worden war. Gewöhnlich
blieben nur das lederne Halsband und einige verstreute Knochen, die das Volk
dann verbrannte.
Von Jesus blieben nur die Nägel im Holz des Kreuzes.
Er hat immer bedauert, Zurbarans „Anbetung der Schäfer“ nie im Grenobler Original gesehen zu haben. Damals, als er mit ihr war, hatte er nicht einmal geahnt, welch Schätze in dieser Alpenfußprovinzstadt nackt vor kläglichen Augen hängen. Und später war es zu spät, waren die Widerstände im Herzen der Gewohnheit zu groß, um noch einmal auf Kontinentalreise zu gehen. Dabei dachte er selbst, daß es nichts Lebensernsteres gäbe, als eine beschwerliche, ja aufopferungsvolle Reise für ein einziges Ölgemälde auf sich zu nehmen. Vielleicht wird man dem Wert eines großen Gemäldes ja überhaupt nur durch solch eine beschwerliche, aufopferungsvolle Reise gerecht. Doch er blieb dabei, nach dieser einzigen Reise mit ihr, damals, quer durch Europa, vorbei an den Wurzeln der Eltern, im Anblick von Reproduktionen durch die Welt zu kommen.
Sieben
Jahre nachdem Zurbaran das Schaf Christi zum ersten Mal im leuchtenden Weiß
gegen die hintergründig schwarze Endzeit abgesetzt hatte, holte er das
Opferlamm in die Geburt
Jesu zurück. Auf der Grenobler „Anbetung der Schäfer“
liegt das Schaf gebunden und vergessen und noch immer gutmütig dreinblickend
am Fuß der Wiege Gottes. Als läge das Leben des Gottessohns schon
in dessen Wiege fertig vor ihm ausgebreitet. Sieben Jahre nachdem Zurbaran
den Tod Jesu malte, kommt das Opferabbild auf die Geburt zurück, und
schließt somit den Rückwärtskreis, der nur dem Künstler
offen steht. Die Schäfer, die das gebundene Schaf zur Feier der Geburt
als Schlachtvieh und Geschenk mitgebracht, stehen verklärt im Halbkreis.
Einzig die Verrückte unten links schaut aus dem Bild heraus und durchbricht
so den Kreis der vom Leben Gefangenen. Unschuldig stehen sie da, in ehrlicher
Freude und Andacht. Was kann an ihnen so schlimm, an ihrer Seele so schlimm,
an ihren Beweggründen so stinkend sein, daß dieser Säugling
sich dreiunddreißig Jahre später als Sündenbock für sie
opfern wird?
Das Schaf von Grenoble liegt grauer da als auf den Bildern, wo es allein im
Rahmen liegt. Dafür strahlt der Säugling mit offenen Augen und offenem
Mund um so heller. Genau wie der Ärmel der Verrückten. Das Licht
kommt diesmal schräg, von unten links, als ständ’ da der Maler,
der mit leuchtendem Auge auf sein Werk sah und sah, daß es gut war.
Bloß was ist gut daran? Das Bild, das Abbild, die Sache?
Man muß die Geometrie der Hände betrachten. Jede einzelne Hand
ist als verweisende Geste auf die real daliegende Neugeburt gerichtet. Doch
gerade das Verweisende der Geste legt die Verbindung zum Außerhalb des
Bildes, zur unsichtbaren Bedeutung des Ereignisses. Im Unterschied zu den
Händen der Menschen weist die Hand des Engels hinauf zum himmlischen
Harfenspiel, an dem sich nackte Kinder erfreuen, die im Buch der Welt blättern.
Wo ist Gott, wenn er in dem Wiegenkind auf Erden abgestiegen ist? Könnte
er seinen Himmelspalast verlassen haben, weil ohnehin schon alles in seinem
Buch vorausverzeichnet ist, so daß selbst die himmlischen Kinder wie
im Dramenskript den Szenenablauf auf der Bühne verfolgen können?
Der einzige, dessen Hände nirgendhin verweisen ist der junge bärtige
Mann am Kopfende der Wiege. Inoffensiv, doch wie in Vorbehalt, sich selbst
nach außen abgrenzend, liegen die Arme im Kreuz vor der Brust. Leicht
verbeugt er sich, sein in sich gekehrter Blick geht an dem Neugeborenen vorbei.
Zwischen dem noch unbewußten Wiegenkind und dem zum Opfer gebundenen
Kalb steht Jesus hier als Denkender, Zweifelnder, wie plötzlich Verstehender.
So als ob er, seiner eigenen Geburt ansichtig werdend, plötzlich seinen
Weg als Ganzes bis hin zur Selbstopferung am Kreuze ins Auge nähme. Im
Spannungsfeld seiner drei Lebensalter wächst der Selbstzweifel dem jungen
Jesus zur Idee einer Mission aus. Doch es ist kein Gott, der hier in Jesus
die Erfüllung der Selbsterkenntnis führt. Es ist der Mensch Jesu,
der in sich, in diesem Augenblick, auf den Gott stößt.
Zurbaran, das Motivgenie, berührt mit der „Anbetung der Schäfer“
die Essenz christlicher Motivik. Einmalig in der Kunstgeschichte, wie er im
Malen die Tiefen des Schöpfergeists der christlichen Bibel anschürft.
Wer außer ihm hat rein durch die Bildkraft das Wesen der Gottessohngeschichte
so durchleuchtet, daß selbst die Wortkünstler darob verstummen?
Es gab Tage, da konnte er nicht zu malen beginnen, wenn er nicht wenigstens eine Stunde sich in die „Anbetung der Schäfer“ vertiefte. Und es gab Tage, Wochen, Monate, da er sich den Blick darauf verbieten mußte. Irgendwann hatte er ihr auseinandergesetzt, daß die ganze Kunstgeschichte durch dieses Werk ginge und ohne dieses Werk überhaupt nicht zu verstehen wäre. Aber sie hatte nicht zugehört, hatte diesen abwesenden Blick, auch wenn sie das natürlich leugnete. Er hatte gelernt, sie nicht zu sehr zu reizen, mit seinem Vorwurf des Nichtzuhörens. War verstummt. Bedauerte nur, den Gedanken nicht mit ihr zu teilen. Weniger, weil er wichtig gefunden hätte, daß sie ihn verstände, als weil ihr Zuhören ihm geholfen hätte, weiterzureden.
Die „drei Alter Jesu“ nehmen unzweifelhaft Bezug auf ein beliebtes
Motiv des Jahrhunderts vor Zurbaran. Wer der erste war, der das Motiv einst
umgesetzt, mögen die Wissenschaftler wissen, sicher aber
ist, daß Hans Baldungs „Drei Lebensalter der Frau“ zur Madrider
Zeit von Velasquez und Zurbaran durch König Philipp IV. nach Escorial
geholt worden war und nicht nur dem skurrilen Bettzimmergeschmack des Königs
anregte. Auf Baldungs Gemälde bildet der Tod das Kettenendglied des vorhersehbaren
Lebenslaufs. Auf Zurbarans drei Alter Jesu hingegen wird der Tod des Gottessohns
durch die Verbildlichung der Sündenbocksmetapher geradezu ausgeklammert.
Im Unterschied zur alten Frau ist es nicht der Tod, der Jesus holt, sondern
eine Idee.
Wie stirbt ein Mensch, der in sich Gott ist? Was geschieht dem Gott beim Tod
des Menschen, in dem er sich ansässig gemacht hat? Wo ist der Gott, wenn
der Mensch nur noch Schaf ist? Braucht Gott das Symbol, um sich seiner selbst
zu versichern?
Die Geometrie Hans Baldungs stützt sich nicht auf die Hände, nicht
auf die Blicke, sondern auf die Füße, vor denen, wie von einem
Tritt niedergerissen, der Säugling eben an derselben Stelle liegt wie
das Schaf auf Zurbarans „Anbetung der Schäfer“. Nur daß
der Kopf andersherum gerichtet ist und statt der Todeseule ein geschlossenes
Buch zu liegen kam. Das Buch, das vor den nackten Kindern des Himmels aufgeschlagen
ist, liegt auf Erden unbeachtet neben dem Eierkorb der Verrückten.
Während das Kind auf Zurbarans Anbetung im Lichtzentrum liegt, geht das
Kleinkind auf Baldungs Lebensaltern unter der Eitelkeit der Jungfrau und dem
Neid der epilierten, grauhaarig, hängebrüstigen Alten Verschütt.
Es schreit, selbst der Tod hört weg.
Dem Wiegenkind Zurbarans geht eine Verheißung voraus, auch wenn Jesus
dieser erst gewahr wird, als er auf dem Bild in reifem Alter an seine Wiege
tritt. Dem Kleinkind Baldungs liegt nur ein häßlicher Weg der Eitelkeiten
und Nichtigkeit voraus. Es sucht Halt an der Spitze der zerbrochenen Lebenslanze.
Jesus erkennt sich an seiner Wiege als Figur Baldungs und begehrt auf, nicht
um dem Tod zu entkommen, sondern der nichtigen Verkettung des Lebens zum Tode.
Jesus wendet sich ab von der Wiege, denkend, aus seinem Leben etwas zu machen.
Im Opferlamm vollendet sich der äußere Weg. Doch entzieht sich
Jesus gerade im Lamm dem äußeren Weg.
Die
revolutionäre Bildkraft des links unten vor der Wiege liegenden Opferlamms
steigert sich in der Erinnerung an Caravaggios Opferung Isaacs in adjektivlose
Höhen. Der biblische Urvater, der auf Gottes Flüstern hin seinen
Sohn unters Schlachtermesser nimmt, und Gottvater selbst, der seinen eigenen
Sohn vom unfreien Willen der Unverständigen ans Kreuz nageln läßt,
sind die Protagonisten ein und derselben Geschichte. Isaac schreit aus Entsetzen,
nicht wissend, was ihm geschieht. Vom einen Moment auf den anderen alles verlierend,
was im Weltvertrauen ihn zu sich selbst hatte kommen lassen. Einsamkeit, die
ihm im Herzen zu Unendlichkeit auswächst. Wohingegen Jesus, im tatenlosen
Blick des Vaters an drei Nägeln hängend, von keiner Enttäuschung
entmachtet ist, sondern einen Weg vollendet, auf dem er selbst gegangen. Er
ist von Einsehen gestärkt, auch wenn er trotzdem, im letzten Aufbäumen
seines Menschseins, Gottvater um Gnade ruft.
Das über alles Hinausweisende in der Korrespondenz der Bilder von Zurbaran
und Caravaggio ist allerdings das Opferlamm. Während das Lamm auf Tizians
„Opferung des Isaac“ nur einen tierisch dümmlichen Ausdruck
hat und auf Rembrandts ganz fehlt, schenkt Caravaggio dem Lamm erstmals eine
Psyche. Auf Caravaggios frühem Opferbild von 1601 drängt sich das
Lamm wie aus eigenem Willen in die Nähe des Messers. Gutmütig schaut
es, den Hals vorstreckend, doch ohne Mitleid für Isaac. Auf Caravaggios
zweitem Opferbild von 1605 sind im Vergleich zum ersten Bild einige Minuten
vergangen, Abrahams Griff hat sich gelockert, die Spannung etwas nachgelassen.
Isaac schaut aus dem Augenwinkel zum Engel hinauf, der wiederum Abraham direkt
in die Augen schaut. Das Lamm, diesmal so tiefe menschliche Innigkeit ausstrahlend
wie bei Zurbaran, blickt treu, fast liebend zu Isaac, als würde es von
Isaac eine Geste der Zuneigung erwarten. Die Hufe des Lamms sind nicht gebunden,
aufrecht steht es, wird von niemandem gehalten.
Bei Caravaggio steht das Lamm noch nicht in Bezug zu Jesus, doch kommt man
nach der Betrachtung von Zurbarans Lamm nicht mehr umhin, im Lamm der Opferung
Isaacs bereits die Ankündigung der Opferung des Messias zu sehen. Womit
bildnerisch geschieht, was in der Dichtung der Evangelien schon einmal durch
rückbezügliche Projektion mit den Geschichten des Alten Testaments
geschehen war.
Was hätte Jesus wohl von seiner Zurbaranschen Idee des Lamms gehalten,
wenn er vor seiner Kreuzigung Caravaggios Bild gesehen hätte? Was wäre
aus ihm geworden, wenn ihm auf dem Kreuzweg auf der sechsten Station statt
des Schweißtuches das Gemälde Caravaggios vorgehalten worden wäre?
Wäre er trotzdem weitergegangen, weil seine Sturheit größer
als sein Kunstverständnis? Oder hätte er sich in den Staub gesetzt
und sich geweigert, weiter seine Rolle zu spielen? Oder hätte er, wenn
er in der Opferung Isaacs auch Zurbaran schon hätte hindurchschimmern
sehen, gerade erst recht das Kreuz wieder aufgehoben und wäre in der
Verheißung der Bildenden Kunst, die er mit seinem Tod würde stiften,
voll Verzückung, Stolz, Genugtuung seinen Kreuzigern in die Hände
gelaufen? Wäre, wenn er Caravaggio, Rubljow oder Zurbarans „Kruzifixus
mit Maler“ gesehen hätte, sein Gott nicht von der Kunst so sublimiert
worden, daß er seinen Lebenssinn spendenden Auftrag, wenn schon nicht
im Tragen der Sünden der Welt, so doch im Kunst gründenden Ereignis
gefunden hätte? Wer sich an die Idee eines Gottes verliert, ist der nicht
schon ohnehin an die Kunst verloren?
Er
könnte heulen, hat er ihr einmal gestanden, daß Jesus nie durch
den Prado hat gehen können. Sie meinte, wahrscheinlich, um überhaupt
etwas zu meinen, daß der Louvre für Jesus das geeignetere Museum
gewesen wäre. Was ihn vollkommen in Rage brachte. Sie würde ja von
Kunst nichts verstehen, sollte bei ihrem Tschaikowski Gefiedel bleiben, vor
dem würde sich selbst der Gekreuzigte die Ohren zuhalten. Der Louvre
ist der Teufel, der Gott genagelt hat, um die monde entier an ihre Billetterie
zu bekommen. Im Prado sei wenigstens Platz, damit Jesus bis ins Obergeschoß
zu Goya die Erhabenheit seines Opfers meditieren könnte.
Maria weinte trotzdem, sagte sie und brachte ihn zum Verstummen. Nicht zum
Weinen, aber wenigstens zum Verstummen. Er schenkte sich nach, ihr auch. Warum
weint die Mutter, wenn das Kind durch zwölf Stunden Leid zweitausend
Jahre Menschheit in die Bahnen lenkt? Que ce qu’elle s’en fout
de deux mille ans d’humanité? C’est son fils qui meurt.
Woher will Sarah wissen, wie eine Mutter fühlt, sagte Abraham zu Hagar.