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Kafarnaum
von Istvan Listo
aus "Nachtnovelle" S.55-60
[Alea, zweite Hauptfigur der Nachtnovelle, sitzt im Kaminzimmer eines hochgelegenen Bergchalets, wo sie zur Pflege eines Reglosen Dienst tut. Von Büchern umgeben, wartet sie auf das Ende der Nacht. Schemen vom Licht der Petroleumlampe haben sie in ein Gespräch mit ihrer Mutter gebracht.]
Alea nahm noch einmal die Bibel und blätterte
zurück auf die hinteren Seiten, wo angeblich nichts dem liebenden Gott
zum Vorwurf gemacht werden kann. Außer daß er seinen Sohn nicht
im Internat von einem augverdrehten Mönch erwecken, sondern am Kreuz
versiechen ließ. Sie erinnerte sich an eine Stelle, die sie nicht gleich
fand und zu der sie sich erst durch zahlreiche andere Stellen hindurchsuchen
mußte. Zweimal kam es ihr vor, als würde sie vom Dorf tief unten
die Kirchglocken zur vollen oder halben Stunde läuten hören, was
natürlich unmöglich war, es sei denn, es war in ihrer Erinnerung,
die sie in ihr Kinderzimmer hinter dem Platz der Alten Kirche zurücktrug.
Sie hatte die Glockenschläge nicht gezählt, der Anfang verschwamm
mit dem Ende. Zweimal, dreimal, viermal. Es war mitten in der Nacht. Die Schwärze
draußen verband sich mit der des Universums. Sie blätterte weiter.
Lukas, Matthäus, Markus.
Kafarnaum. Vier Männer brachten einen Gelähmten zu Jesus. Weil
sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten
sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen
den Gelähmten auf seiner Tragbahre durch die Öffnung hinab. Als
Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine
Sünden sind dir vergeben! Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen,
dachten im stillen: Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott.
Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? Jesus erkannte sofort,
was sie dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr im Herzen?
Ist es leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir
vergeben!, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh umher? Ihr
sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, er sagte
zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh
nach Hause! Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller
Augen weg. Da gerieten alle außer sich, sie priesen Gott und sagten:
So etwas haben wir noch nie gesehen.
Dein Gottessohn heilte mit bloßem Wort und führte mit bloßem
Wort in die Irre. Gleich den großen Demagogen sagt er das eine und läßt
an das andere denken. Was hat denn eine Wunderheilung mit Sündenvergebnis
zu tun? Dadurch, daß er ein Wunder vollbringt, das keinem Menschen sonst
möglich, will er glauben machen, daß er von Gott die Macht und
Vollmacht selbst zu den höchsten Dingen der Moral erhalten hat. Volk
und Gelehrte lassen sich nur durch Zauber von ihren Vorurteilen abbringen.
Das, Mama, macht der Teufel nicht anders. Der Mensch glaubt jedem, der Macht
über ihn und das Schicksal hat. Wer Äpfel in Birnen und Kranke in
Gesunde verwandeln kann, dem traut man zu, auch an der Schwelle zum Jenseits
ein gutes Wort einlegen zu können.
Die Mutter sagte nichts. Ihr gefiel die Geschichte. Und sie war taub für
Argumente, die ihr die Geschichte kaputt machen sollten. Jesus zeigte die
Wahrheit jenes Traumes, daß keine Situation so aussichtslos ist, daß
sie nicht von einem Moment auf den anderen gelöst werden kann. Tote können
zu Lebenden, Lahme zu Gehenden, Blinde zu Sehenden, Schuldige zu Unschuldigen
mit der Drehung nur eines Wortes werden. Nichts ist, das nicht auch sein Gegenteil
sein könnte.
In Worten ist alles einfach. Eine Vorsilbe macht aus einem Menschen einen
Unmenschen, aus Gunst Mißgunst, aus dem Sehen ein Versehen, aus dem
Sohn einen Gottessohn. Doch wo Schweigen herrscht, da ist ein Stein ein Stein
und ist ein Stein. Da ist eine Feldblume eine Feldblume und ist ein Feldblume.
Da ist ein am Boden zerschelltes Kind ein kaltes Stück Fleisch und ist
eine Erinnerung.
Doch selbst im Schweigen ist die Hoffnung ein Licht, das durch das Nichts
bricht. Und die Schuld eine Phantasie, die das Leben in seine Logik zwingt.
Sag, Mutter, was ist die Schuld des Gelähmten, die Jesus ohne weiteres
vergibt? Kennt er die Schuld, oder vergibt er sie einfach so? Ist die Lähmung
des Gelähmten Strafe für seine Sünden? Oder widerfuhr das Unglück
ihm nur aus lauter Pech? Kann der Gelähmte plötzlich wieder laufen,
weil der Menschensohn ihm an Gottes statt die Sünden vergibt und ihn
damit von der vergeltenden Strafe entbindet? Sieht Jesus wie sein himmlischer
Vater jedem Menschen die Schuld an, so daß er sie löschen kann?
Aber warum tut er es dann nicht für jeden, anstatt nur für diesen
einzelnen?
Es ist nur ein Machtbeweis des Zauberers. Der Gelähmte ist völlig
unwichtig. Er hat nichtmal einen Namen, geschweige denn eine Biographie.
Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn,
deine Sünden sind dir vergeben! Die Schriftgelehrten aber dachten, er
lästert Gott.
Natürlich lästert er Gott. Ihren Gott. Ihr Gottesbild. Ihr törichtes.
Die Leute sind’s, die glauben, daß die Lähmung Gottes Strafe
für des Gelähmten Sünden sind. Dabei hat Gott, das weiß
der Menschensohn, seine Hände da nicht im Spiel. Wo der Menschensohn
dem Gelähmten seine Schuld vergibt, vergibt er ihm nicht etwa die Schuld
vor Gott, die auch der Menschensohn nicht kennt, sondern entkräftet die
Schuldzuweisung durch den Dünkel der Leute.
Der Gelähmte ist krank durch die ausweglose Schuldzuweisung der Leute
und durch die Schuld, die er sich in Angst vor seinem Gottesbild selbst einredet.
Die Lähmung als Strafe ist die Reaktion seines Leibes auf das Schuldgefühl
in sich. Jesus reißt ihm kraft seiner teuflischen Autorität das
Schuldgefühl, das ihn an die Barre nagelt, aus der Seele heraus. Den
Leuten aber lehrt er nichts und selbst der Geheilte begreift nichts. Die Leute
glauben an ihren Gott genauso wie an den Teufel oder einen Zauberer, daran
ändert auch Jesus nichts. Als er schließlich sagt: Ihr sollt erkennen,
daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden
zu vergeben, da rechnet er mit ihrem Mißverstehen. Weil ihr Mißverstehen
sich so viel einfacher als ihr Verstehen gegen Dünkel und von Kindheit
anerzogenen Glauben wenden läßt.
Warum sagt er nicht: Die Zwinge von Strafe und Sünde, die aus jedem Unglück
eine begründende Sünde schindet, macht euch krank, bleich, häßlich.
Anstatt die Sünden an ihren Wurzeln der Lieblosigkeit zu heilen, lähmt
ihr eure Freiheit mit der Phantasie eines himmlischen Henkers und Leidensengels.
Ohne Angst ist der Mensch nun mal nicht gut.
Glaubst du das wirklich, Mama. Wo hat deine Angst vor dem Leben dich je gut
zu mir sein lassen?“
War der Gelähmte des Markusevangeliums also
nur ein eingebildeter Gelähmter, ein an seinem Schuldgefühl erstarrter
Gelähmter, ein Raskolnikow, der sich dermaßen vor der ihm drohenden
Vergeltung einer vor langem begangenen, doch unablässig im Kopf weiterdrehenden
Sünde fürchtete, daß er vor seinem inneren Bild Gottes gleich
dem Vogel vor der Schlange zu keiner Regung mehr fähig? Als Jesus ihn
kraft der Autorität seiner Rolle als Sohn Gottes zwar nicht von seinem
Schuldgefühl, aber von seiner Angst vor Gottes Zorn befreite, wohin ging
er da, der namenlose Gelähmte? Als er seine Barre in die Hand nahm und
sich einen Weg durch die Massen bahnte, wohin ging er? Weshalb nahm er die
Barre in die Hand und trug das sperrige Gestäng durch das drängende
Gewühl. Was braucht er die Barre noch? Schuldet er sie einem Nachbarn,
oder ist sie sein einziger Besitz, den er auf einem Marktplatz gegen Brot
und Wein tauschen wird? Erfaßt er die Situation schneller als jeder
andere und kalkuliert schon, wieviel er für das berührbare Stück
des göttlichen Wunders auf einer Devotionalienauktion einheimsen kann?
Hat er seine Lähmung gar nur gespielt, um für die Krankenbahre des
lang vorher abgesprochenen Wunders das Vermögen zu ergaunern, das ihm
noch fehlte, um seine verächtete Mutter aus dem Freudenhaus des Tempels
freizukaufen?
Als sie sich so vom einen ins andere immer tiefer in die Geschichte hineinziehen
ließ und die Figuren beinah in Lebendigkeit vor ihrem Auge zu sich kamen,
begann Alea zum ersten Mal fast so etwas wie Geschmack an diesem alten Buch
zu finden. Zwar hütete sie sich weiterzulesen, um ihrer Vorurteile nicht
zu schnell beraubt zu werden, aber ganz im Innersten ahnte sie bereits, daß
ihr Rucksack diesem alten, gotisch gesetzten Buch bald zu einem würdigerer
Platz als diese hundskalte Gebirgsbibliothek werden würde.