Nebuchadonsors Träume - aus MERE VIATOI
von Istvan Listo
Nebuchadonozor, der größte unter
Babylons Königen, war nicht nur mächtigster Herr der Kriege, sondern
verschaffte seinem Land eine Blüte, wie sie der Nachwelt selbst in der
Vorstellung nie wieder vors Auge zu bekommen war. Grausam ging er dabei vor
und keineswegs gerecht, wie ein guter Herrscher eben, dessen Wille einzig
mit dem Willen Gottes wetteiferte.
Er überzog das Land mit einem durchtriebenen Verwaltungsapparat, veranlaßte
fabelhafte Projekte des Landbaus und verwirklichte noch märchenhaftere
der religiösen Kunst. Er stiftete Schulen und förderte wie kein
zweiter ganz bei Sinnen träumender Herrscher die Dichter und Sänger.
Die dankten es ihm, indem sie seine Geschichte in die höchsten Himmel
trugen. Doch wären sie dort bald zu zehntausend Wolken zerrissenen und
ins ewige Vergessen gefegt worden, hätte Nebuchadonozor nicht die hebräischen
Söhne von königlicher Abkunft oder wenigstens aus vornehmer Familie,
die frei von jedem Fehler, schön an Gestalt, in Weisheit unterrichtet
und reich an Kenntnissen, einsichtig und verständig waren, an seinen
Hof bringen lassen, um ihnen zu lehren, was an Wissenschaft und Literatur
der Mensch bereits erschaffen hatte.
Einer der hebräischen Jünglinge, die von Jojakims Hof in Jerusalem
damals verschleppt und an den Busen der babylonischen Weisheit gelegt wurden,
nannte sich Daniel. Das biblische Buch, das seinen Namen trägt, bezeugt
in schönster Sprache eine Reihe von Wundern, die sein Gott ihn vor den
Augen der Welt verwirklichen ließ. Der hervorstechendste Beweis von
Daniels höchst wohlgeborener literarischen Abstammung bleibt jedoch seine
Errettung der Weisen Babylons:
Nebuchadonozor hatte wieder einmal die Nacht
schlaflos unter seinem Baldachin zugebracht und war wie so oft, wenn ihm der
Ekel das Einschlafmittel einer ihn reitenden Hübschlichkeit versagte,
in trübsinnige Gedanken versunken. Die Grenzen dieser Welt waren einfach
zu eng geworden. Nichts gab es mehr zu entdecken und nichts, an dessen Eroberung
er sich noch befriedigen konnte. Mit den Jahren waren schlichtweg die Gegner
ausgegangen. Nichts gab es mehr, an dem sein allseits erfüllter Wille
noch über sich hinauswachsen konnte. Sämtliche Länder und Völker
hatte er unterjocht. Alle Gegenden der Welt mit seinen Heeren durchwütet.
Hinter den Meeren und Wüsten, die alle sein eigen, lag nur noch das ewige
Feuer.
Die Erde verurteilte ihn durch ihre Winzigkeit zum Verlust jeder ernstzunehmenden
Herausforderung. Er wußte. Sein Weg mußte ihn jetzt nach anderswo
führen. Von der Erde und ihren Grenzen mußte er sich abstoßen.
Den Mantel des Fleisches ins Unendliche öffnen. Sich ins Herz, aus dem
die Träume kommen, nach Innen kehren.
Er mußte die Wüste des Atems durchdringen, um die Grenzen der Welt
in einen Gedanken zu sperren. Er brauchte einen Träumer, der ihm die
Wüste des Atems zu einem Bild der Gedanken machte. Ihn barmte nach einem,
der ihm die Phantasie zum Himmel machte. Zu sehr vermißte er Gott, das
einzige Wesen, das ihm ebenbürtig wäre.
Umschlossen von den am Baldachin herabhängenden Mückennetzen lag
die Matratze des Königs wie ein in sich geschlossenes Weltreich. Hat
es je einen Unterschied zwischen der Matratze eines Schläfers und der
Welt eines wachen Weltherrschers gegeben?
Aber der König schlief nicht, schlief schon lange nicht mehr, und dem
Schlaflosen ist die Matratze, was dem Illusionslosen die ganze Welt.
Die Gedanken drehten um hundert Dinge, die einen so unbedeutend wie die anderen.
Als würde das Denken nur noch stattfinden, um sich an seiner eigenen
Belanglosigkeit zu quälen.
Und wenn die Welt nur Welt wegen der Belanglosigkeit der Gedanken wäre?
Was also macht der König, der alles Vorstellbare
realisiert hat und vom Herzen aller weiteren Träume enteignet wurde?
Er läßt sich einen Traum erfinden und derart ausdeuten, daß
ihm die plötzlich überkommende Angst eine Welt im Jenseits eröffne.
Die Vorstellung von einer unfaßbaren, ungeheuerlichen Welt, die in das
Diesseits einbricht, um die Gedanken für einen Moment über deren
Belanglosigkeit hinwegzutäuschen.
Als Nebuchadonozor am nächsten Morgen unter der Gaze seines Bettes hervorkroch,
ließ er sich anders als gewöhnlich nicht mit duftenden Ölen
den Leib abreiben, nicht das Haar flechten, keine Maske aufs Gesicht legen.
Zur Nahrungsaufnahme zwang er sich um diese Tageszeit ohnehin kaum mehr. Seit
er aus dem letzten Krieg zurückgekehrt war und keinen Grund zur Bewegung
mehr fand, war aus dem herrlichen Genuß des Hungerstillens der Überdruß
an den im Maul zerkatschten Speisen geworden. Sobald ihm auch nur das Geringste
zwischen die Zähne kam, packte ihn schon der Ekel vor dem Gestank, der
bald darauf aus den Gedärmen flutschen würde. Also trank er an jenem
Morgen wie an jedem anderen nur einen Pokal vom brennenden Wein, ließ
sich den Umhang überwerfen und rief die Weisen von Babel unverzüglich
in seinen Palast.
Als sie sich endlich versammelt hatten, die Wahrsager und Zeichendeuter, Sterngucker
und Traumverklärer, da sprach Nebuchadonozor:
Heute Nacht ist mir ein Traumgesicht erschienen, das mich erschreckte und
das droht, mehr als euer Leben und mehr als mein Land ins Unglück zu
stürzen. Sprecht, wenn euch Weisheit verliehen ist, und sagt, was der
Traum gewesen ist und was, in des Himmels Verderbnis, er zu bedeuten hat.
Da ließen die babylonischen Weisen vernehmen, ihm in all ihrer Ehrfurcht
den Traum gern deuten zu wollen, so er ihnen denn erzähle, was er geträumt
habe. Keiner war unter ihnen, der verstanden hätte, woran dem König
wirklich gelegen war. Da konnte auch seine Drohung nichts in der Phantasie
der weisen Männer bewegen. Selbst als Nebuchadonosor schrie, daß
es sein unwiderruflicher Entschluß sei, die Weisen allesamt in ihre
siebenundneunzig Leibesglieder zu zerfetzen und zu verbrennen und ihre Häuser
in Schutthaufen zu verwandeln, wenn sie ihm den Traum und seine Deutung nicht
erzählen würden, blieben sie stumm.
Könnt ihr mir den Traum nicht sagen, schäumte der König, ist
dies der Beweis, daß jeder Traum, den ihr mir je zuvor gedeutet, von
eurer Auslegung mißhandelt war. Wer den Traum nicht erzählen kann,
hat es noch nie verstanden, einen Traum auch zu deuten. Ihr dachtet, mit meinen
Träumen das Schicksal nach eurem Sinn zu lenken. Ich aber sage: Mein
Wille lenkt euer Schicksal mit oder ohne Traum.
Was soll ein Staat auch mit Weisen, die unfähig
sind, sich einen Traum zu erdenken und ihn so mitreißend einfühlsam
zu erzählen, daß der Zuhörer meint, diesen Traum selbst geträumt
zu haben? Was soll ein Staat mit Gelehrten, die keine Träume entwickeln
und Zukunft nicht über den Horizont phantasieren?
Und also befahl Nebuchadonozor: Baut Richtstätten, damit ihre nutzlosen
Schädel von den Leibern gerissen werden, wenn sie mir den Traum nicht
bis zum nächsten Sonnenaufgang offenbaren.
Wo die Vernunft der Gelehrten nicht mehr als
die Stille des Schlaflosen vollbringt, wird ihnen, dachte der König,
vielleicht die Angst ums Leben ein wenig von der bildlichen Pracht der Alpträume
verschaffen. Ballt sich hinter den Augen der Sterbenden doch oft das verbrachte
Leben noch einmal in den dichtesten Bildern einzigartiger künstlerischer
Vollkommenheit. Die Macht wäre schlecht genutzt, würden die Todesängste
der Untertanen nicht hin und wieder zum Antrieb ihrer Phantasie und somit
zur Kreation der herrlichsten Werke verwendet.
Nebuchadonozor sorgte dafür, daß die Musik der Zimmermänner
beim Bau der Richtstätten durch alle Gassen der Stadt hallte. Noch war
die Weltgeschichte nicht an jenen verlogenen Punkt gekommen, ab dem sich die
Weisen als Stoiker gebärdeten. Noch klammerten sie mit aller instinktgegebenen
Kraft am Leben. Der Rhythmus der auf das Galgenholz niedergehenden Hammerschläge
würde die festgefahrenen Bilder ihres Inneren lösen. Wo die Not
am größten, werden endlich die rettenden Ideen wieder beispiellos.
Die Grenzen der Gewohnheit brechen auf. Das Unmögliche flackert als Mögliches.
Dem Wahnsinn der Angst erwächst die Kraft zum Denken des Auswegs. Wo
sich das Tor zur Zukunft verschließt, tritt mitunter ein Unbegreifliches
in den Weg, um in dieser stinkenden Sackgasse der Zeit zur Umkehr zu bewegen
und in der Vergangenheit womöglich eine andere Zukunft zu entdecken.
Einige der Weisen hatten sich im Observatorium
versammelt, andere saßen allein in ihren Kammern, spazierten in einem
der Gärten oder hatten den Kopf in den Schoß ihrer Gattin gelegt.
Die Flucht zog keiner ernsthaft in Erwägung, da die Weisen gleich allen
Mitglieder der königlichen Versammlung einen vom Großvezir persönlich
unterzeichneten Passierschein benötigten, um die festummauerte Stadt
durch eines der acht Tore verlassen zu können.
Eine der Gattinnen, deren Zärtlichkeit mehr Besinnung als ein einsamer
Spaziergang versprach, trug den Namen Chaïlcjnma, das am Mittag aufscheinende
Rot des Abend. Sie war die Gemahlin des Arztes Dewpenscha, der Nebuchadonozor
auf den meisten seiner Kriegszüge zur Seite gestanden und ihn schon von
manch schmerzhaftem Übel befreit hatte. In letzter Zeit aber war auch
er machtlos gegen die Leiden des Königs gewesen. Die Kräuter, die
er ihm entweder roh zu kauen oder über dem Feuer zu inhalieren gab, verschafften
zwar Linderung für einige Stunden, verschlimmerten jedoch danach die
abgründige Schwermut nur immer mehr. Keine noch so subtile Arznei der
Sinne vermochte dem König das Ziel zu ersetzen, das er nicht mehr vor
Augen bekam. Zu tief saß der Gram, daß noch immer kein Gott ihn
für Wert erachtete, ihm das Bündnis zur Eroberung des Grenzenlosen
anzubieten. Noch immer mußte er, der doch Herrscher über das weltweite
Babylon war, mit Menschen vorliebnehmen, als hätte er nicht jeden Beweis
erbracht, längst jenseits all des blödsinnig irdischen Gebarens
zu sein.
Dem Arzt jedenfalls blieb nur, sich an die alte Weisheit seiner Profession
zu halten: Ebenso wie man einen Gläubigen nicht von der Inexistenz Gottes
überzeugen kann, vermag man einen Gott nicht zur Akzeptanz seiner Menschlichkeit
zu bewegen. Ist es doch gerade die eigene Menschlichkeit, die jeden Gott so
wahnsinnig verzweifelt, daß er unmöglich wieder zu sich selbst
zu bringen ist.
Als Dewpenscha unter dem Bann seiner bevorstehenden
Hinrichtung in sein Haus zurückgekehrt war und seiner Frau ein Bild vom
Ausbleiben jeden Ausweges machte, sah sich Chaïlcjnma in ihrer oft still
gehegten Vermutung bestätigt: Dem König war einzig durch die Erzählung
von Geschichten zu helfen. „Wenn diese Geschichten“, wagte sich
Chaïlcjnma erstmals seit langem wieder die eigene Rede, „so geschickt
auf den König zugeschnitten würden, daß er sich in ihnen als
ein anderer wiedererkenne, könnte es gelingen, ihm das erniedrigenden
Erkennen des Daseins so zu verschleiern, daß ihm die Welt und er sich
selbst in ihr wieder zu einem faszinierenden Mysterium würde. So ist
zum Beispiel der Weltuntergang eine Geschichte, auf die die unendliche Phantasie
der Leere folgt, und die beherrscht selbst ein Gott nur, indem er eine neue
Tontafel zu beschreiben beginnt. Euch Propheten“, führte Chaïlcjnma
fort, „müßte es gelten, dem König eine Geschichte als
eine neue Welt zu erfinden, und zwar so, daß er glaubt, sie selbst zu
verfassen.“
Aber was sich Chaïlcjnma in ihren ewigen Stunden der häuslichen
Einsamkeit langsam bis in die Tiefe einer wunderbaren Erkenntnis erdacht hatte,
verstand ihr von den Weisen des Landes verehrter Gatte nicht einmal im Ansatz.
Und da ihr auf die Schnelle, wie so häufig bei gar zu denkenden Denkern,
keine Geschichte einfiel, mit deren Erzählung sie ihm ihre Gedanken hätte
begreiflich machen können, ließ der Gatte sie bald wieder allein
und ging zu seinen Kollegen ins Observatorium, um zu erfahren, ob ihnen mittlerweile
die Sterne oder der Flug eines Vogels oder der Blick in die Glut zu einer
rettenden Inspiration verholfen hätten.
Ab dieser Stelle existieren mehrere widersprüchliche
Versionen, von denen die bekannteste diejenige aus dem Buche Daniel ist. Und
obwohl es höchst spannend wäre, die unterschiedlichen Versionen
miteinander in Vergleich zu bringen, soll hier, angesichts der ohnehin schon
überbordenden Fülle historischer Belegsamkeit, nur jene Lesart zu
Ende geführt werden, die für Cardanos Traumbuch bedeutsam wurde.
Es mag allerdings nicht vorenthalten werden, daß Chaïlcjnma, die
medianische Frau des Leibarztes, offensichtlich nicht immer nur ihre Einsamkeit
im kinderlosen Haushalt hütete, denn nicht nur ihre Anmut wurde noch
Generationen später besungen, auch das Gerücht hielt sich wacker,
daß Chaïlcjnma in den Gärten der ihr von Kindheit an befreundeten
Königin mit dem dort öfters geladenen Zirkel vornehmer Jünglinge
vom Hofe Jojakims Umgang pflegte. Was zu einigen wundervollen Konklusionen
zu verführen scheint, die hinsichtlich der gar zu lückenreichen
Fakten jedoch besser der romantischen Phantasie überlassen bleiben.
In einem dieser Gärten hatte Nebuchadonozor übrigens seiner Königin
einst eine Gebirgslandschaft aufschütten lassen, auf daß ihr in
seiner Nähe die Sehnsucht nach dem heimatlichen Kaukasus nicht übermächtig
würde. Was zu den bereits dargelegten Ursachen seiner Schwermut allem
Anschein nach auch noch die des schnell enttäuschten Wahnes heiß
erlittener Liebe zu gesellte. Was aber weder besonders wichtig noch irgendwie
erstaunlich ist, wurde die Liebe ja ohnehin längst als der letzte Notanker
vor der Erkenntnis des absoluten Nichts entlarvt.
Mit solch einem Treibanker der sich vor dem Sturme Fürchtenden hatte
Daniel, zumindest nach biblischer Maßgabe, nie etwas zu schaffen, und
wo seine Liaison mit Chaïlcjnma aus pietätischen Gründen ohnehin
keiner näheren Betrachtung unterzogen werden darf, kann in Bezug auf
Daniel dieser lapidar romanhafte Abschnitt, wie er sich in jeder menschlichen
Biographie nun einmal ergibt, gern im Dunklen belassen werden. Denn auch wenn
die schöne Literatur mehr als jeder Gigolo von der Liebe profitiert,
so ist die Bibel doch das beste Beispiel, daß es auch ohne geht. Was
wohl nicht zu letzt ein Zeichen dafür ist, daß es angesichts der
Angst, auf dieser Welt zu sein, mit der Liebe so weit wohl doch nicht her
ist. Die Liebe ist ja im Grunde einfach nur die beste Entschuldigung, sich
keine andere Gedanken zu machen.
Sei es wie es sei, als der Befehl erging, die Weisen zu töten, waren
auch Daniel und seine Freunde in Gefahr, getötet zu werden. Was natürlich
frei erlogen war, da Daniel nicht zu den Weisen gehörte und somit auch
nicht unter Todesdrohung stand. Weil die Geschichte aber darauf hinausläuft,
daß Daniel die Weisen vor dem Verderben rettet, das spätere hebräische
Publikum aber kaum verstanden hätte, wenn ein Gottesliebling aus Jerusalem
die weisen Männer des feindlichen Volkes einfach bloß aus Mitgefühl
in Schutz nahm, ergab sich diese Dramatisierung als unausweichlich. Die Todesgefahr
ist eben ein literarisches Mittel, auf das selbst die Bibel nicht verzichten
kann. Wo schon die Liebe als Mäzen der Illusion keinen Auftritt bekommt,
braucht es wenigstens den Tod, um die Seele des Lesers in die Folter der Emotionen
zu bekommen.
Daniel ging also zum König und bat ihn, er möge ihm eine Frist bewilligen,
damit er ihm die Deutung des Traumes geben könne. Die Frist wurde ihm
bewilligt, denn soviel hatte der Bibelgläubige bereits begriffen: Gott
will angefleht werden, und dafür braucht es Zeit. Da kann man noch so
gottgeliebt sein, Gott will sich im Flehen seiner Kinder genießen. Was
man im Falle Daniels natürlich auch als kleine literarische Pause verstehen
könnte, um so die Spannung zu erhöhen.
Als Daniel vom Königspalast zu seiner Lehmhütte heimkehrt, fordert
er seine Freunde auf, wegen dieses Geheimnisses den Gott des Himmels um Erbarmen
zu bitten, denn Gott ist ein wenig schwerhörig und vermag auch nicht
von allein zu sehen, wo seine Hilfe Not tut.
Als Gott ihm in jener Nacht tatsächlich die Inspiration verlieh und er
des Traumes, den der König nicht hatte, ansichtig wurde, betete Daniel
dem Gott sogleich in langer Litanei seinen Dank. Nach der bis zu diesem Punkt
rapid entwickelten Handlung wird nun die Zeit im Gebet angehalten. So wird
dem Zuhörer, der zunächst von der Geschichte mitgerissen worden
war, die Zeit gelassen, um dem Wunder des offenbarten Traumes in seinem ganzen
Ausmaß innezuwerden.
Am nächsten Morgen ging Daniel erhobenen
Hauptes durch die Stadt. In seinem Kopf trug er den Traum des Königs,
und für einen Moment lang sah er sich als freiesten Mann der Stadt, des
Landes, der Welt. Wer sich Gott durch preisende Untertänigkeit zum Diener
macht, wird zu Aladdin, der seine Freiheit aus der Lampe reibt. Wo die anderen
Bürger gottlos vor der Willkür des Königs zitterten, kannte
Daniel die Macht eines Traumes, mit dem er vor dem König stehend in ihn
dringen würde. Sein Selbstvertrauen war so unermeßlich wie das
Vertrauen in die eigene Phantasie. Sein Vertrauen in Gott so unermeßlich
wie der Glaube an die Geschichte von Gott. Er ging durch die Straßen
der mächtigsten Stadt der Welt, und erstmals seit Josef fühlte sich
wieder ein aus der Fremde verschleppter Sklave als der einzig Unantastbare
eines Reiches. Seiner Unentbehrlichkeit bewußt, sah er sich schon als
die kommende Macht im Reich die Zukunft in sein eignes Licht nehmen.
Er hatte nur mit aller Bescheidenheit auf die Gelegenheit warten müssen,
daß die Weisen und Wahrsager, Zeichendeuter und Astrologen dem König
das Geheimnis, nach dem er fragte, nicht zu enthüllen vermochten, um
sodann den entscheidende Satz vorzubringen: Aber es gibt im Himmel einen Gott,
der Geheimnisse offenbart. Und mir wurde dieses Geheimnis enthüllt nicht
durch eine Weisheit, die ich vor allen anderen Lebenden voraus hätte,
sondern nur, damit du, König, die Deutung erfährst und die Gedanken
deines Herzens verstehst.
Ohne ein einziges Mal vom König unterbrochen
zu werden, erzählte Daniel den Traum als ein Gleichnis vom Dasein des
Menschen und verlieh ihm eine Deutung, die dem König endlich wieder die
Phantasie aufkratzte.
Daniel zeichnete das Traumgesicht als ein gewaltiges Standbild. Der Kopf der
riesigen Statue war aus reinem Gold, der Torso und die Arme aus Silber, die
Lenden und Hüften aus Bronze, die Beine aus Eisen und die Füße
zum Teil aus Eisen und zum Teil aus Ton. Gewaltig herrschte dieses glänzende
Monstrum über der wüsten Ebene. Doch plötzlich löste sich
ein Stein von einem fernen Gipfel, der viel höher ragte als je ein Mensch
zu steigen vermochte. Rasend, immer rasender schoß der Stein direkt
auf den Koloß zu und traf ihn mit einer solchen Wucht, daß Eisen
und Ton, Bronze, Silber und Gold mit einem Mal zu Staub zerbarsten. Ein Staub,
der wie Staub vom Winde ergriffen wurde und jede Spur zu einer Spur ohne Spur
verwandelte. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte, wurde zu einem
großen Berg und erfüllte die ganze Erde.
Später wurde behauptet, daß Nebuchadonozor schwieg, weil ihn das
Entsetzen ergriff, wie dieser Gott mit den Träumen, die er den Menschen
einhaucht, schließlich hausieren geht. Andere hingegen meinten, daß
ihm der Schrecken die Stimme verschlagen hätte, weil er plötzlich
erkennen mußte, wie dieser junge Hebräer in seine Nacht gedrungen
war, und er selbst in seinen Träumen nicht allein sein konnte. Doch zweifellos
war er, so wie der Leser, einfach nur gespannt, wie es weitergehen würde.
Jedenfalls setzte Daniel seine Erzählung gleich mit der Deutung des Traumes
fort. Du, König, bist der König der Könige; dir hat der Gott
des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen. Und in der
ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen, die Tiere auf dem Felde und die
Vögel am Himmel in deine Hand gegeben; dich hat Er zum Herrscher über
alle gemacht: Du bist das goldene Haupt.
Da fragte Cardano auf einmal zwischen, was wohl die Herrschaft über die
Vögel im Himmel bedeuten soll? Und Messino antwortete: „Es war
ein Seitenhieb gegen die Weisen der hundert Orakel, die aus dem Flug der Vögel
die Zukunft lasen. Es sollte bedeuten, daß Nebuchadonozor über
allem von Menschen offenbarten Schicksal stehte“. „Es ist doch
immer wieder erstaunlich,“ meinte Cardano darauf, „wie oft die
bedeutsamsten Stellen in der Beiläufigkeit ihrer Erwähnung getarnt
werden, um sich nur dem aufmerksamen und eingeweihten Leser kundzutun.“
„Die eigentliche Geschichte zeichnet sich eben erst in der allerhöchsten
Aufmerksamkeit ab“, übernahm Messino wieder das Wort, um Daniels
berühmte Deutung zu Ende zu bringen.
Das goldene Haupt ist das Symbol für Nebuchadonozor und die unteren Körperpartien
stehen je nach Wertigkeit der Materialien für die nach ihm folgenden
Herrscher und Reiche. Wenn aber die Zeit der Könige kommt, die so niedrig
wie das mit Ton vermischte Eisen sind, dann wird der Gott des Himmels ein
Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht. Ein lebloses Reich. Ein
Reich, wo der Staub selbst über den letzten Leib eines Menschen verfügt
haben wird. Der große Gott hat den König wissen lassen, was dereinst
geschehen wird. Zukunft, das ist Untergang zurück in die Leere.
Nebuchadonozor huldigte, nachdem Daniel verstummte, dem Erzähler seines Traumes.
Dabei war es keineswegs die Zermalmung des
Standbildes, die den König durch den heiligen Schrecken ins Zaumzeug
des Traumes genommen hatte. Die irdische Ewigkeit interessierte ihn schon
lange nicht mehr. Er durchschaute gut genug, wie die nach seinem Tode dekadierende
Nachwelt seinen goldnen Kopf nicht würde tragen können. Das hätte
er auch ohne den Traum nie bezweifelt. Nein, was ihn an dem Traum derart faszinierte,
daß er wieder zu Lebenskräften kam, das war der Stein. Der den
Untergang bringende Stein, der zum alles überragenden Gipfel wird und
schließlich die ganze Erde ausfüllt.
Zuerst hatte er in dem Stein das Symbol für sein Weib des Nerventodes
zu erkennen geglaubt, da ja auch die aus den Bergen des Kaukasus über
ihn gekommen war. Doch als er sich über die Blindheit des Naheliegenden
erhob, leuchtete ihm mit einem Male der entscheidende Gedanke auf. Die Zerstörung
ist das Werk, das den Göttern die Eifersucht einjagt, durch die sie sich
gezwungen sehen, dem weltlichen Herrscher den Hammer aus der Hand zu reißen,
um ihn selbst mit der irren Wucht des Himmlischen auf die Welt niedersausen
zu lassen.
Um die Götter zu Vollziehern des menschlichen Willens zu machen, bleibt
dem Menschen nur, die Zerstörung einzuleiten. Denn wo der Weltuntergang
von den Göttern längst vorrausgeplant ist, ist der Mensch nur das
Dummerchen, wenn er den heimlich feixenden Göttern die Erde mit phantastischen
Kunstwerken füllt, einzig damit den Himmlischen in der schließlichen
Raserei der Zerstörung der orgiastische Höhepunkt ins Unermeßliche
wachse. Jeder Schlag auf den Meißel einer Skulptur, jedes Kratzen eines
Griffels über die Tontafel, jeder Stich an dem Bewässerungsgraben
eines Feldes, jede Schleifspur eines Steines für den großen Turm
zu Babel, jeder zarte Atemhauch ins Schilfrohr einer Flöte geschieht
letztlich nur für die Anspannung der göttlichen Lust, damit sie
sich in der Zerstörung der menschlichen Schöpfungen um so mächtiger
entladen könne.
So lustvoll Nebuchadonozor die Zerstörungswut in sich anwachsen spürte, so sicher spürte er plötzlich, sie sich besser für seine Zeit im Himmel aufzubewahren. Für jene kommende Zeit, wenn er selbst zu einem Gott erhoben wäre und mit viel ungeheureren Hämmern und Blitzen die ganze vergebliche Welt in Schutt und Asche schlagen könnte. Auf Erden jedoch, ja auf Erden, da ist die Perfektion der wahrhafte Beginn der Zerstörung. Für den noch hiesigen Herrscher kann es daher nur gelten, die ganze Sinnlosigkeit auf den Gipfel zu treiben, und die Welt hier unten so perfekt und schön wie nur menschenmöglich zu machen.
Denn ist sich der Mensch nicht selbst der Stein, der über seine eignen Träume rollt?
Der König verlieh Daniel einen hohen
Rang, machte ihn zum Gebieter über die ganze Provinz Babel und gab ihm
den Vorsitz über alle Weisen der Stadt, was Daniel nicht weniger als
Josef nutzte, um Einfluß auf die Geschicke seines Volkes und damit aller
anderen Völker zu nehmen.
Bedacht, den geringsten Fehler in der Verwaltung des ihm unterwiesenen Landes
zu vermeiden, wurde ihm das geschickte Abwägen seiner ministeriellen
Entscheidungen zu einem Schutzschild, hinter dem er unangreifbar wurde. Mehr
und mehr lernte er, wie sich die Vorstellungen, die seine Untertanen von der
Realität hegten, in seinem Sinne verwirren ließen. Und bald gelang
es ihm, selbst den Unverständigsten die Maßnahmen seiner Politik
schmackhaft zu machen.
Sein Hauptaugenmerk lag jedoch auf der Führung der Weisen, die er je
nach ihren Fähigkeiten an literarische, musische, technische oder religiöse
Werke band, so daß die natürliche Aufmüpfigkeit ihrer Intelligenz
nicht nur niedergehalten wurde, sondern vor allem seinen eigenen Ideen nützlich
wurde. Es kam wieder etwas in Gange im Staate Babylon. Das Heute wurde wieder
so interessant, wie das Morgen voller Spannung erwartet wurde. Selbst Nebuchadonozor
war aus seiner luziden Lethargie gerissen. An langen Abenden, die er mit Daniel
an den verruchtesten Plätzen des Reiches verbrachte, wurde ihm das Hirn
wieder zu eigenen Ideen und Gedanken erwärmt. In der Erschöpfung
der Morgenstunden fand er wieder zu Träumen. In den Geschichten von Daniel
und in denen von Chaïlcjnma wurde ihm die irdische Welt wieder groß.
Und langsam kam ihm auch der Mensch wieder als das wunderbare Objekt verschiedenartigster
Experimente in den Sinn.
Diese Experimente mit dem Geist der Untertanen machte er zur Priorität
des Staates. Überall wurden Theater eröffnet, wandernde Erzähler
aus allen Ländern herangeholt, Schulen errichtet, neue Tempel erbaut,
die Kunst in allen ihren Formen erweckt. Vor allem aber wurde die Literatur
gefördert wie nie zuvor und wie seitdem wohl nie wieder. Die erste wahrhaft
literarische Tradition fand ihre Gründung. Gemeinsam arbeiteten die Weisen
und die Gewieften, die Erzähler und die Priester an vielerlei Büchern
und waren so hingerissen von diesen sich neu eröffnenden Welten, daß
sie gar vieles vergaßen, was früher ihr Leben ausgemacht hatte.
Täglich wurde in den Theatern und Tempeln, auf den Marktplätzen
und in den Häusern der Wohlhabenden die neuen Werke der Sprachkunst an
den Zuhörern erprobt, um schließlich immer subtiler die Wirkung
der Worte zu lenken.
Daniel, der dies alles mit kühlem Auge beobachtete und mit ruhiger Hand
in den Selbstlauf lenkte, nutze die schnellen Strömungen der Imagination,
um in ruhigen Buchten und abgelegenen Armen einige vertraute Hebräer
an ihre eigene Nationalliteratur und Religion zu setzen. Eine Literatur, die,
anders als die babylonische, zur Neubegründung eines Volkes bestimmt
war. Einzig in dieser literarisch so fruchtbaren Atmosphäre des neuen
Babylons konnte das Buch erschaffen werden, das mit seinen Bildern und Geschichten
bald eine ganze Nation verwilderter Analphabeten im tiefsten Herzen traf und
am durch Herz und Hirn gehenden Faden auf ewig hinter sich vereinte.
Für einige Zeit war Nebuchadonzors Traum,
dessen Erfindung durch Daniel im Anfang dieser ganzen Epoche stand, nur als
anekdotische Erinnerung des glorreichen Debüts im Gedächtnis des
Königs geblieben. Die Leere des Paradieses hatte sich in sich auf eine
ungeheure Vielzahl schmerzloser Welten geöffnet.
Spät, viel später erst erkannte Nebuchadonozor, daß eben die
Literatur der Stein war, der dem Koloß Umsturz und Zermalmung brachte.
Die Literatur war es, die den äußeren Schein der Realität
so gründlich verkennen und vergessen ließ, daß die stupidesten
Ignoranten, bepackt mit bloßen Muskeln, plötzlich vor sämtlichen
Stadtmauern erscheinen konnten und diese ohne Widerwehr wetzten, bis alles
in Staub lag und alle glänzende Kunst zu Münzen eingeschmolzen war.
Als Nebuchadonozor es schließlich erkannte, war er dessen zufrieden
wie ein Gott, der das Buch, nachdem er es vollendet hatte, verbrannte. Da
sangen die drei im glühenden Ofen wie aus einem Munde, sie rühmten
und priesen Gott.