Josef-Kapitel aus MERE VIATOI
von Istvan Listo
Herr der Träume nannten sie Josef als sie ihn von weitem über die Steppe herankommen sahen und beschlossen, ihn zu töten.
Doch auch der Herr der Träume trat mitunter in seinen Schlaf wie in ein Schlachthaus ein.
Von weit oben sieht er sich die lange Ebene
des Dotan durchschreiten und auf das Lager seiner Brüder zukommen. Schnell
nähert er sich, unaufhaltsam. Schon kann er einzelne Zelte ausmachen.
Schon erkennt er eine Gewalt von Männern ihm entgegenstehen.
Es ist Mittag, die Sonne sengt fast senkrecht und da ihn nichts zur Eile ermahnt,
hat er sich am Rande der Ebene in den Schatten eines überhängenden
Felsen gesetzt. Und wieder sieht er sich, sieht sich die Leere durchqueren,
Schritt für Schritt. Unwiderstehlich nähert er sich, er sieht es,
dem Lager, vor dem, er weiß es, die Brüder mit heiligen Opfermessern
auf ihn warten.
Befleht hatte er den Vater, ihn nicht hinauszuschicken zu den Brüdern,
ins Niemandsland der Güte. Aber der Vater, so sehr ihm Josef auch der
nächste Stein am Herzen war, hatte verlangt, daß der Sohn sich
als Mann zeige.
Mit dem Rücken lehnte er am Felsen und schaute hinab in die Ebene, in
der das Vieh, kraftlos von der Hitze des Mittags, träge auf der vertrockneten
Steppe lag. Kein Mensch war zu sehen, nichts bewegte sich.
Die Kraft der steil aus dem Zenit stechenden Sonne hatte schon durch ganz
andere Schädel unauslöschliche Erscheinungen gebrannt. Die Mittagsstunde,
Stunde der Dämonen, war entweder im Schatten die Stunde des leichten
Schlafes oder schutzlos draußen die des großen spirituellen Verhängnisses.
Josef lag in der Mittagsstunde der Träume,
die so leicht unter der Oberfläche flirren, daß dem Bewußtsein
nicht nur kein noch so feiner Winkelzug entgeht, sondern daß der geübte
Träumer gar als Steuermann durch die Landschaften der schnell wechselnden
Bilder treibt.
Die Sinne sind noch wach in diesen Momenten des sanften Schlafes, doch der
Weg der Vorstellungen ist schon frei von den Begrenzungen des Leibes, der
im Zustand der Wachheit zu fest an Zeit und Ort gebunden ist. Vergißt
man durch den Halbschlaf die konkret Situation, in der man sich befindet,
öffnet sich die Zeit und mit ihr der Raum auf das Irgendwann des Irgendwo,
in welches man traumhaft als das Gefühl, das man von sich selber hat,
mit hinübergetragen wird.
Nichts unterscheidet die Wahrnehmung dieser traumhaften Wirklichkeit von der
Wahrnehmung der scheinbar wirklichen Wirklichkeit, die nur noch als Ausschnitt
eines weit größeren, umfassenderen Bildes des Daseins in Erscheinung
tritt.
Und warum sollte man diese umfassendere Einbildung von Welt nicht aus dem
Traum lösen und in der Munterkeit des Geistes ausmalen? Warum diese Freiheit
nur mit geschlossenen Augen leben, anstatt mit geschärften Sinnen im
Geist gestalten?
Liegt nicht gerade darin die Aufgabe der Worte? Aus der scheinbaren Beliebigkeit
der Traumbilder eine Welt zu formen, die mitteilbar ist und also zu einer
gemeinsamen Welt werden kann, ohne sich auf jene nur wirkliche Welt zu reduzieren,
die stets auf die Schmerzen, Ängste und Lüste als Mittel der Verständigung
angewiesen bleibt.
Bereits Jahre zuvor, als seine Niedlichkeit ihn noch harmlos erscheinen ließ, hatte Josef begonnen, den anderen und insbesondere seinen Brüdern die eigenen Träume zu erfinden. Erst die Erfindung seiner Träume befriedigten ihn mit dem Gedanken, nicht lediglich den Bildern zu unterliegen, die Gott ihm als was auch immer bedeutende Zeichen in seinem Halbschlaf produzierte. Indem er den anderen seine Träume erfand, dachte er sich der Allmacht Gottes ein Stück weit zu entziehen. Und je überzeugender ihm die Träume in seinen Erzählungen gelangen, desto mehr fixierte er sich auf die Idee, in den Schöpfungen seines eigenen wachen Geistes die Oberhand zu gewinnen gegen die Phantasien Gottes, die sich in seinen Träumen manifestierten.
Und so saß er nun, Josef, Sohn Israels, gelehnt an einen schattenwerfenden Felsen und machtlos fest in all seiner Imagination. Wehrlos mußte er mit ansehen, wie er erzitterte an der Angst vor den Brüdern, die ihm, unabhängig all seiner Schöpfungen des Geistes, in leibhaftiger Realität mit dem Tode drohten. Ein Tod, der ihm und seinen Erfindungen des Lebens, in vollkommener Gleichgültigkeit Gottes, das Ende bereiten würde.
Als die Sonne sich zum Horizont neigte, gab er sich dann freilich doch einen Ruck, um zu seinen Brüdern hinabzusteigen, denn auch er wußte natürlich, die Wirklichkeit bis zu einem gewissen Punkt selbst erleben zu müssen, um sie später glaubhaft erfinden zu können.
Doch gerade in dem Moment, als er aufbrechen
wollte, um die letzten Stadien bis hin zu seinen Brüdern zu gehen, da
sah er am linken Fluchtpunkt der Ebene die Staubwolke einer Karawane aufsteigen.
Karawanen solcherart waren zwar nichts ausgesprochen seltenes in dieser Gegend,
aber doch immerhin selten genug, um ihr Erscheinen gerade in diesem Moment
für eine Fügung, wenn nicht der Vorsehung, so doch zumindest des
Glückes zu halten. Auf jeden Fall sprach nichts dagegen, das Auftauchen
der Karawane als ein schicksalhaftes Zeichen zu begreifen, das er nur noch
in seinem Sinne ausdeuten mußte.
Nomaden sind so eisern gefesselt an ihre traditionellen Weideplätze,
daß sie nie auch nur zur kleinsten Reise aufbrechen. Ständig schlafen
sie zur Nacht im eigenen Zelt, sind ständig mit immer denselben Hirten
zusammen und gehen, immer denselben Plausch schwätzend, auf denselben
Wegen wie schon die Urväter von einem Tal zum nächsten, bis schließlich
am Ausgang der Tälerrunde alles wieder von vorn beginnt. Nichts geschieht,
was nicht jedem Vorvater schon nahezu genauso geschehen war. Selbst die Geschichten
bleiben immer die gleichen, es sei denn, es kommt, die geringe Wahrscheinlichkeit
dieses Zufalls verlachend, ein weitgereister Händler vorbei, der gegen
reiche Bewirtung von der Welt erzählt. Wobei dann freilich das, was solche
von weit her Gekommenen zu berichten haben, meist an den harten Köpfen
der nomadischen Alltäglichkeit auf derartige Unverständnis stößt,
daß im gemeinsamen Feixen über die Andersheit der anderen jedes
Gefühl von Minderwertigkeit in die eigene unfehlbare Großartigkeit
umgedeutet wird.
Josef wußte nur zu gut, daß auch er, wenn er nicht ohnehin von
seinen Brüdern beiseite geschafft würde, in Bälde ein Weib
zu sich zu nehmen hätte und von Weideplatz zu Weideplatz ziehend, seine
Zeit damit vertrö¬deln würde, sowohl den eigenen Nachwuchs
als auch den seiner Viecher zu vermehren. Wer würde dann, wenn er beständig
bloß mit denselben Eseln und Esel¬treibern Tage und Nächte
verbrächte, auch nur das geringste zu erfahren wün¬schen von
all den Träumen, die er bei wachem Geiste zu erschaf¬fen gierte?
Ganz davon abgesehen, daß er da, wo er als Hirte nichts außer
den Widrigkeiten der Natur erleben würde, beständig auf die Inspirationen
Gottes angewiesen bliebe, anstatt im Austausch mit anderen Träumern und
Erlebern sowohl reiche Kenntnis von sämtlichen Dingen zu gewinnen, als
auch die Schöpfungen des Geistes an immer neuem Publikum zu erproben
und folgenreich anzuwenden.
Die Sonne sank tiefer und tiefer, doch war
die Karawane schon nah genug gekommen, um an ihrer Last und Größe
erkennen zu können, wie sie von Weither nach Weithin zog. Es galt eine
Entscheidung zu treffen. Entweder seinen Brüdern unter die Augen und
vielleicht sogar unters Messer kommen oder mit der Karawane in die Verheißung
des Unbekannten treten. Was die Entscheidung zu einer Entscheidung machte,
war einzig die Ungeheuerlichkeit, den vorgezeichneten Weg zu verlassen. Auf
der einen Seite stand die Gewißheit der Trübsinnigkeit im immer
Gleichen und auf der anderen die Ungewißheit des lockend phantsiebekräftigenden
Unvorhersehbar. Das hiesige Leben kannte er und würde es von heut auf
morgen über alle Tage nur noch trüben Sinnes wiederholen. Da bot
das in alle Ferne verglückte Leben doch zumindest die Chance, daß
auch ihm ein Schicksal blühe, welches niemand außer ein erfundener
Gott vorauszusehen mag.
Nichts gab es zu verlieren. Wasser und Nahrung findet sich überall, wo
der Mensch sein Leben fristet und man weiß, wie man sich den Nächsten
zum guten Freund macht oder ihn zumindest durch Mitleid an der Seele rührt.
Und wenn in der Fremde, wie die feigen Dableiber es stets behaupten, der
Tod tatsächlich hinter jedem Vorsprung lugt, so wächst in der Fremde
immerhin die Hoffnung auf das Rettende der Not, wohingegen in der Heimat das,
was ursprünglich die Hoffnung war, vor der Stetigkeit des Unausweichlichen
entschwirrt. Selbst wenn sich dieses Mal der Haß der Brüder noch
nicht an ihm ausleben sollte, die Gelegenheiten, das Blut aus ihm zu spülen,
bleiben ihnen solange erhalten, wie er in ihrer Nähe bleibt. Sicher,
Rubens, der Älteste, hatte manchmal ein gutes Wort für ihn gefunden,
aber dafür würde er ihn eher in einer zu erzählenden Geschichte
belohnen, anstatt sich im Ernstfall auf ihn zu verlassen.
Unter dem Kleid hatte er silbrig schimmernde
Steine, die er in ein Tuch gewickelt über dem stur vor sich hin pochenden
Herzen trug. Der esäuische Onkel hatte sie ihm einst geschenkt, als Josef
im Anschluß an ein Gastmahl jene verdorbene Geschichte zum Besten gab,
für die ihm der Onkel ein Zeichen der Belohnung setzen mußte, um
den Jungen gegen die von Moral verzwirbelte Zunge des Vater in Schutz zu nehmen.
Diese Siblersteinchen sollten genügen, um sich bei den Kaufleuten ein
Kleid nach ihrer Art einzutauschen. Und ansonsten hoffte er, sich gegen Brot
und Wasser mit seiner Kraft und Geschicklichkeit so beliebt zu machen, daß
ihn die Karawane egal wohin, doch immer weiter weg, mit ihres Weges nehmen
würde.
Als die Dunkelheit den freundlich wie feindlich gesinnten Augen die Sicht in die Ferne genommen hatte, stieg er schließlich tatsächlich von seinem Platz am Felsen und näherte sich stillschleichend dem Lagerplatz der Karawane, um diese zunächst ein wenig auszukunden, bevor er sich womöglich von einer bloß fixen Idee selbst in ein Verhängnis treiben würde.
Ohne je erkannt worden zu sein, verließ
Josef im Morgengrauen mit der midianitischen Karawane den Boden der jämmerlichen
Heimat. Den Brüdern hinterließ er, gut sichtbar an einer vorstehenden
Felsspitze, seinen in Lämmerblut getränkten Ärmelrock, den
ihm der Vater einst zum Neid seiner Brüder hatte anfertigen lassen. Mögen
sie doch frohlocken, ein wildes Tier hätte ihn zerrissen, und sehen,
ob der Vater ihnen glaubt.
Soll der Vater doch um ihn trauern und die Brüder mit Vorwürfen
plagen, ohne Konflikt bleibt nun einmal auch die noch so schön erzählte
Geschichte ohne Leben. Und ohne Leben heißt, so langweilig und gewöhnlich
wie jedes nicht selbst in die Hand genommene Leben.