Von Walter Dietrich (Bern)
Erschienen in: C. Hardmeier / R. Kessler / A. Ruwe (Hg.), Freiheit und Recht. Festschrift für Frank Crüsemann, Gütersloh 2003, 141-152
Im Folgenden werden zwei Erzählungen zueinander in Beziehung gesetzt: eine biblische und eine nachbiblische. Die eine ist die wohlbekannte Geschichte von David und Goliat, [2] die andere stammt von Heinrich Böll und trägt den Titel "Die Waage der Baleks". Ihr Inhalt sei hier kurz wiedergegeben. [3]
Ein Ich-Erzähler berichtet von der Kindheit seines Großvaters, Franz Brücher: irgendwo im Böhmischen, in den Ländereien der Gutsherrenfamilie Balek. Dort "lebten die meisten Menschen von der Arbeit in den Flachsbrechen. Seit fünf Generationen atmeten sie den Staub ein, der den zerbrochenen Stengeln entsteigt, ließen sich langsam dahinmorden, geduldige und fröhliche Geschlechter". Die Kinder trugen zum Familienunterhalt bei, indem sie in den Wäldern Beeren, Kräuter und Pilze sammelten. Die Gutsherrin nahm sie ihnen ab, wog sie auf einer großen alten Waage, schrieb einen Pfennigbetrag gut, schenkte den Kindern ein Bonbon und verkaufte die Ware in der Stadt mit vielfachem Gewinn. "Eines der Gesetze, die die Baleks dem Dorf gegeben hatten, hieß: Keiner darf eine Waage im Hause haben." Niemand hatte sich dabei je etwas gedacht. Doch als zu Neujahr 1900 die Familie Balek geadelt werden sollte, bekam jede Familie im Untertanenland ein Viertelpfund Kaffee geschenkt. Der damals zwölfjähige Franz sollte die Gratifikation für vier Familien abholen und erhielt dabei unverhofft die Gelegenheit, die Waage der Baleks zu überprüfen. Jemand hatte nämlich "den Halbkilostein liegengelassen ..., und mein Großvater nahm die vier Kaffeepaketchen, legte sie auf die leere Waagschale, und sein Herz klopfte heftig, als er sah, wie der schwarze Zeiger der Gerechtigkeit links neben dem Strich hängenblieb". Rasch legte er zu den Kaffeepaketen Steine, die er in der Hosentasche trug, bis das Gleichgewicht hergestellt war, nahm dann schnell alles wieder herunter, wickelte die Steine in ein Sacktuch und lief durch die Winternacht: durch zwei Dörfer, in denen niemand eine Waage besaß, bis zum nächsten Städtchen, wo er den Apotheker bat, die Steine zu wiegen. Er hörte: "Fünfeinhalb Deka, genau", lief nach Hause zurück, ließ sich verprügeln, verriet aber nichts, sondern rechnete stundenlang: Auf einem Zettel, auf dem er seine Lieferungen an Frau Balek festgehalten hatte, summierte er, um wie viele Gramm und Pfennig er betrogen worden war. Gerade "als es Mitternacht schlug, vom Schloß die Böller zu hören waren, ... als die Familie sich geküßt, sich umarmt hatte, sagte er in das folgende Schweigen des neuen Jahres hinein: Baleks schulden mir achtzehn Mark und zweiunddreißig Pfennig" ein für seine Verhältnisse ungeheurer Betrag. Seine Entdeckung sprach sich herum wie ein Lauffeuer, und am nächsten Morgen, als die Baleks zum Festgottesdienst in die Kirche kamen, wandten "sich die Gesichter der blassen Leute ihnen zu, stumm und feindlich." Franz hielt der Gutsherrin beim Hinausgehen jene Steine entgegen und erklärte: "So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an Ihrer Gerechtigkeit." Mittlerweile war jemand ins Schloss eingedrungen und hatte die Waage samt dem großen Buch entwendet, in dem sämtliche Lieferungen der Kinder eingetragen waren. Und nun saßen die Männer des Dorfes den ganzen Neujahrstag zusammen und "rechneten, rechneten elf Zehntel von allem, was gekauft worden aber als sie schon viele tausend Taler errechnet hatten und noch immer nicht zu Ende waren, kamen die Gendarmen des Bezirkshauptmanns, drangen schießend und stechend ... ein und holten mit Gewalt die Waage und das Buch heraus". Auch in den Nachbardörfern gab es Aufruhr, doch auch dort wurde er gewaltsam niedergeschlagen. Danach schien Ruhe einzukehren: "die Kinder sammelten wieder Pilze, sammelten wieder Thymian, Blumen und Fingerhut, aber jeden Sonntag wurde in der Kirche, sobald die Baleks sie betraten, das Lied angestimmt: Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet, bis der Bezirkshauptmann in allen Dörfern austrommeln ließ, das Singen dieses Liedes sei verboten." Am Ende mussten Franz Brücher und seine Familie ihr Dorf verlassen und sich fortan als wandernde Korbflechter durchs Leben schlagen. "Und wer ihnen zuhören wollte, konnte die Geschichte hören von den Baleks ..., an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu."
Diese meisterhaft und anrührend erzählte Geschichte weist mehrere biblische Bezüge auf. Natürlich spielt das zitierte Lied, das vom "getöteten Herrn" handelt, auf die Passionsgeschichte an; wir kommen darauf später zurück. Nicht so leicht zu erkennen sind die Anklänge an die Goliat-Geschichte. Ein Vergleichspunkt springt freilich in die Augen: Hier wie dort kommt es zu einem Ringen zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern. [4] Einmal tritt dem hünenhaften, schwer bewaffneten Goliat der junge David entgegen, der wiederholt (von Saul und von Goliat!) ausdrücklich als naar "Knabe" bezeichnet wird (1 Sam 17,33.42). Das andere Mal bekommt es die mächtige Gutsherrenfamilie der Baleks mit einem zwölfjährigen Knaben namens Franz Brücher zu tun.
Sonst aber scheinen beide Texte durch Welten getrennt zu sein: nicht nur, was Raum und Zeit anlangt tausende von Meilen und Jahren liegen zwischen ihnen , sondern auch in ihrer Grundanlage. Die Goliat-Geschichte zeigt uns eine betont militärische Szenerie mit staatspolitischem Hintergrund: Zwei Nationen ringen um die Vorherrschaft, Heer steht gegen Heer, der Krieg mündet in das blutige Duell zweier Stellvertreter-Kämpfer. Die Balek-Geschichte hingegen schildert das entbehrungsreiche Leben einer ausgemergelten Landbevölkerung und ihr stilles Aufbegehren gegen eine ungerechte Feudalherrschaft. Auch der Ausgang des Konflikts ist grundverschieden: Die biblische Geschichte endet mit dem glänzenden Sieg Davids und Israels über Goliat und die Philister, während in der modernen Geschichte offenbar die Baleks über die Brüchers die Oberhand behalten. Ferner ist die biblische Erzählung stärker religiös getönt als die moderne: König Saul sagt dem in den Kampf ziehenden David zu, Jhwh werde mit ihm sein (1 Sam 17,37), und dieser erklärt seinem Gegner, er trete gegen ihn an "im Namen Jhwhs der Heerscharen" (1 Sam 17,45); demgegenüber nimmt Franz Brücher den Kampf gegen die Baleks mutterseelenallein auf, und er beruft sich dabei nicht auf Gott, sondern auf die Gerechtigkeit.
Freilich, auch in die Balek-Geschichte spielt Religiöses hinein: Die Feudalherren und ihre Untertanen treffen sich in der Kirche, bei der Messe. Während die einfachen Leute aufsässige religiöse Lieder singen, suchen die Adligen mit Hilfe des Pfarrers die Lage zu beruhigen: "und die Baleks zwangen den Pfarrer, öffentlich in der Schule die Waage vorzuführen und zu beweisen, daß der Zeiger der Gerechtigkeit richtig auspendelte ... aber niemand ging in die Schule, um den Pfarrer anzusehen: er stand ganz allein da, hilflos und traurig mit seinen Gewichtssteinen, der Waage und den Kaffeetüten." Religion also nicht als Ermutigung der Kleinen zum Kampf gegen die Mächtigen, sondern als Waffe der Mächtigen gegen die Kleinen: "Opium des Volkes" das von diesem aber im konkreten Fall verschmäht wird.
Auch die militärisch-staatspolitische Dimension fehlt der Balek-Geschichte nicht. Zwar prallen nicht Ethnien und Heere aufeinander, sondern Dorfbewohner und Gendarmerie, dient also die Armee nicht der Bekämpfung von außen andringender Feinde, sondern der Unterdrückung im Innern schwelender sozialer Unruhe. Gleichwohl steht mit dem Aufruhr der Dörfler die staatliche Ordnung, repräsentiert durch die Baleks und den Bezirkshauptmann, auf dem Spiel warum sonst das militärische Dreinschlagen?
Die Parallelen verdichten sich, wenn man einige, scheinbar nebensächliche und darum bisher nicht hervorgehobene Züge der Balek-Geschichte in den Blick nimmt. Franz Brücher, so wird erzählt, war besonders "fleißig und klug"; er kroch beim Pilzesammeln "weiter in die Wälder hinein, als vor ihm die Kinder seiner Sippe gekrochen waren, er drang bis in das Dickicht vor, in dem der Sage nach Bilgan, der Riese, hausen sollte ... Aber mein Großvater hatte keine Furcht vor Bilgan". Auch wenn der biblische Goliat nicht wirklich als Riese geschildert wird, sondern nur als riesenhaft, ähneln sich die beiden Gestalten namentlich in der Wirkung, die von ihnen ausgeht. Vor Goliat haben alle Israeliten Angst (bis auf David), vor Bilgan alle Dorfkinder (bis auf Franz). Bilgans Schatten liegt drohend über den Wäldern und dem Land der Baleks. Er wird nicht Fleisch und Blut, wie Goliat weswegen er auch nicht direkt angegriffen und getötet werden kann. In gewisser Weise aber gewinnt der unheimliche Gegner doch konkrete Gestalt, insofern die Baleks nach ihrer Adelung "Balek von Bilgan hießen, weil der Sage nach Bilgan, der Riese, dort ein großes Schloß gehabt haben soll, wo die Gebäude der Baleks stehen". So fahren denn die Baleks "am Neujahrstage zum Hochamt in die Kirche ..., das neue Wappen einen Riesen, der unter einer Fichte kauert schon in Blau und Gold auf ihrem Wagen". Die Herrenfamilie ist stolz auf den mythischen, furchteinflößenden Vorfahren, sie nennt sich jetzt "Baleks von Bilgan". Damit ist deutlich: In den Baleks bekämpft Franz Brücher Bilgans Erben und kommt damit David in seinem Kampf gegen Goliat sehr nahe.
Ein weiteres Mal ist vom Riesen Bilgan in der zentralen Szene der Balek-Erzählung die Rede, als Franz die Waage der Baleks überprüft: Er handelt rasch und zielgerichtet, doch "sein Herz klopfte heftiger, als wenn er im Walde hinter einem Strauch gelegen, auf Bilgan, den Riesen gewartet hätte". Die Baleks sind also bedrohlicher als Bilgan, die Realität gefährlicher als der Mythos, der Kampf um Gerechtigkeit riskanter als ein Zweikampf mit (eingebildeten?) Riesen. Umso verblüffender, dass Franz seinen Kampf gegen die Baleks von Bilgan mit just denselben Waffen führt wie einst David den seinen gegen Goliat: "und er suchte aus seiner Tasche Kieselsteine, wie er sie immer bei sich trug, um mit der Schleuder nach den Spatzen zu schießen, die an den Kohlpflanzen seiner Mutter herumpickten drei, vier, fünf Kieselsteine mußte er neben die vier Kaffeepakete legen, bis die Schale mit dem Halbkilostein sich hob". Bekanntlich sammelte David, als er durch das Bachbett des Terebintentals Goliat entgegenschritt, fünf Kieselsteine für seine Schleuder ein, um gleich mit dem ersten in die Stirn des übermächtigen Gegners zu treffen. Fünf Kieselsteine, eingesammelt für seine Schleuder, setzt auch Franz Brücher ein: freilich nicht als Schleuder-, sondern als Gewichtssteine; doch gerade so werden sie zu äußerst wirksamen Geschossen gegen die Baleks von Bilgan! Als sich Franz und die Schlossherrin zum Abschluss der Neujahrsmesse Aug in Aug gegenüberstehen, rücken noch einmal die fünf Steine in den Blick: "Und er zog die fünf Kieselsteine aus seiner Tasche, hielt sie der jungen Frau hin und sagte: So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an Ihrer Gerechtigkeit; und noch ehe die Frau etwas sagen konnte, stimmten die Männer und Frauen in der Kirche das Lied an: Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat dich getötet ..." Die Steine haben getroffen: ins Herz kaum in das der Frau von Bilgan, wohl aber in das der einfachen Leute, so dass sie ihr Widerstandslied anstimmen.
Wiederum: die Differenzen zwischen beiden Geschichten sind auch in diesem Punkt unübersehbar. Franz benutzt Schleuder und Steine, um freche Spatzen zu vertreiben, David hingegen braucht sie als tödliche Waffe, sei es als Hirte gegen wilde Tiere oder als Schleudersoldat gegen feindliche Krieger. Es dürfte sich denn auch um technisch recht unterschiedliche Geräte handeln: hier eine einfache, Ypsilon-förmige Holzschleuder, wie Kinder sie benutzen, dort eine Bandschleuder, die in Kreisbewegungen geschwungen wird, bis eines der beiden Bandenden losgelassen und damit das Geschoss freigegeben wird; kurz, ein Spielzeug versus eine Distanzwaffe. Es würde denn auch wenig Sinn machen, wenn Franz mit seinem Gerät ein Mitglied der Familie Balek (oder gar den Riesen Bilgan, wenn es ihn denn gäbe!) physisch angriffe. Vielleicht könnte er jemanden verletzen, er würde aber nicht alle Baleks treffen und er würde schon gar nicht den Schatten Bilgans vertreiben können. Gegen übermächtige Feinde dieser Art vermögen Schleudersteine nichts auszurichten höchstens, wenn sie in Gewichtssteine umfunktioniert werden.
Allerdings kommt es auch in der Balek-Geschichte zu Gewaltanwendung: nicht nur seitens der Gendarmen, sondern auch durch einen Dorfbewohner. Es gibt da einen Wilderer namens Wilhelm Vohla, der eingeführt wird als einer der Menschen, die, um auf ihre Kosten zu kommen, "das Gesetz mißachteten". Er war es auch, der, statt dem Hochamt in der Kirche beizuwohnen, ins Schloss der Baleks von Bilgan eindrang, die Waage und das große Buch entwendete und damit nicht nur das kollektive Ausrechnen der Schulden der Baleks ermöglichte, sondern auch das Einschreiten des Bezirkshauptmanns und der Gendarmerie provozierte. Bei der Schießerei verlor Franz kleine Schwester Ludmilla das Leben, "und einer der Gendarmen wurde von Wilhelm Vohla, dem Wilderer, erstochen." Doch der Blutzoll war zu nichts nütze. Eine Familie hatte ein Kind verloren, und die Gendarmen holten trotz des Verlustes eines Kameraden "mit Gewalt die Waage und das Buch heraus". Gegengewalt gegen die mit den Baleks verbündete Staatsgewalt: das bewirkt offenbar nichts Gutes.
Was aber hat denn Franz Brücher mit seinen Kieselsteinen bewirkt? Bilgan oder die Baleks liegen am Ende nicht besiegt und tot am Boden. Immerhin aber wird gegen sie und ihre Machenschaften der Kampf aufgenommen. Da ist endlich einer, der ihrem ungerechten Treiben auf die Spur kommt: keiner der Männer im Dorf, auch nicht der Wilderer Vohla, sondern ein halbwüchsiger Junge. Seine Entdeckung führt zum Erwachen der Dorfbewohner. Die bisher so gutmütigen, geduldigen Untertanen beginnen aufzumerken, nachzurechnen, sich zur Wehr zu setzen. Die Baleks erleben bisher nie Dagewesenes: "in der Kirche wandten sich die Gesichter der blassen Leute ihnen zu, stumm und feindlich". Beim Hinausgehen hören sie aus dem Munde "des kleinen blassen Franz Brücher" die unangenehme Wahrheit. Danach dann ruhte "fast eine Woche lang ... die Arbeit"; das Volk verweigert seinen Oberen, was sie am dringlichsten erwarten: die Arbeitskraft.
Und dann dieser Choral: "Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet", regelmäßig in der Kirche angestimmt, ohne Weisung des Pfarrers und ohne Begleitung des Organisten, Kampfgesang der betrogenen Menschen und von solcher Sprengkraft, dass er regierungsamtlich unterdrückt werden muss. Angespielt wird in dem Liedtitel (dass es einen solchen Choral gibt oder je gegeben hat, ist eher unwahrscheinlich) auf das Leiden und Sterben Jesu Christi: ein Passionslied also, das in der aktuellen Auseinandersetzung plötzlich höchst konkrete Bedeutung erlangt. Das regt zu einer intertextuellen Verknüpfung der Balek-Erzählung nicht nur mit der Goliat-, sondern auch mit der Passionsgeschichte an und von da aus wieder ergeben sich überraschende Bezüge zwischen den auf den ersten Blick grundverschiedenen biblischen Geschichten.
Der Tod des "Herrn" erscheint in der Balek-Geschichte als Sinnbild des Kampfes auf Leben und Tod, wie er jetzt gegen Bilgan und seine Nachfahren zu führen ist. Die damals den "Herrn" "getötet" haben, wussten sich den Anschein der "Gerechtigkeit" zu geben. Beim Prozess gegen Jesus wurden die ordentlichen Rechtsinstanzen eingeschaltet und das Urteil scheinbar rechtskonform gefällt. Die Evangelien lassen indes keinen Zweifel, dass die Verurteilung und Hinrichtung Jesu schreiendes Unrecht war. Ebenso bemänteln die Baleks das von ihnen verübte Unrecht mit dem Schein der Gerechtigkeit. Symbol dafür ist die große, alte, ehrwürdige und scheinbar unbestechliche Waage, auf der jedes Gramm der gesammelten Pilze und Kräuter genau abgewogen wird, um dann scheinbar korrekt vergütet zu werden. Doch die Waage ist gefälscht, und darum ist die vermeintliche Gerechtigkeit pure Ungerechtigkeit. Diese konnte so lange unentdeckt bleiben, weil sie sich geschickt, grammgenau, als Gerechtigkeit tarnte. Hinter dieser Tarnung wird auch heute, wie damals, "getötet": nicht nur sozial, durch das Ausbeuten der kleinen Leute, der Kinder gar, sondern auch physisch, durch gesundheitszerstörende Arbeitsverhältnisse, und schließlich durch die Schüsse der Gendarmen, denen die kleine Ludmilla zum Opfer fällt.
Von der modernen Geschichte aus eröffnen sich interessante Perspektiven auf die Jesusgeschichte. Das "Töten" und Sterben unter der Herrschaft der Baleks hat eindeutig soziale Ursachen: Für den eigenen Vorteil opfert die Adelsfamilie bedenkenlos die Gesundheit und das Leben ihrer Untertanen. Verlor nicht auch Jesus sein Leben, weil die Mächtigen sich von ihm nicht genügend respektiert und durch ihn ihre Privilegien in Gefahr sahen? Nicht von ungefähr also erkennt die aufbegehrende Dorfbevölkerung in Jesus ihren Leidensgenossen und Verbündeten und finden sich die Baleks von Bilgan unverhofft auf der Seite der Christusmörder wieder.
"Gerechtigkeit der Erden" war es, die den "Herrn" "tötete". Das ist eine ironische Verkehrung; es war irdische Ungerechtigkeit, die da einen Gerechten zu Tode brachte. Sollte es auch eine andere, himmlische Gerechtigkeit geben, die nicht "tötet", sondern lebendig macht? Und wirkt sie etwa schon auf Erden: überall dort, wo Menschen aufstehen gegen ihnen zugemutete Ungerechtigkeit? Ist das mutige Handeln des kleinen Franz Brücher ein Ostergeschehen? Ist das von ihm ausgelöste Aufstehen gegen das Unrecht ein Auferstehen aus dem Grab stumpfen Hinnehmens und dumpfer Abhängigkeit? Ist Bilgan also der Tod? (Nicht der normale Tod, der jedes Menschenleben abschließt und mit dem die alttestamentlichen Menschen zu leben wissen, sondern der ungerechte, aus dem Unrecht aufsteigende Tod, der immer zu früh kommt und mit dem sich niemand abfinden darf!)
Von da aus ergeben sich wiederum zur Goliat-Geschichte intertextuelle Bezüge. Wenn Bilgan den Tod verkörpert warum dann nicht auch Goliat? Wenn der Aufruhr gegen die Baleks von Bilgan Gegenwehr gegen soziale Repression war warum dann nicht auch der Kampf gegen Goliat und die Philister? Binnentextliche Exegese der Goliat-Geschichte läßt sich leicht ablenken durch Phänomene im Textvordergrund: die Waffenrüstung Goliats, die Treffsicherheit Davids, die kriegerische Szenerie, die ethnische Konfrontation. Schiebt man vor diese vermeintlich scharfen Konturen die analogen Züge der Balek-Geschichte, dann eröffnen sich plötzlich andere Sichtmöglichkeiten. Goliat ist nicht mehr eine (vermeintlich) konkret-historische Gestalt, er erweist sich als zeitlos-gegenwärtiger Albtraum. In Goliat die Baleks von Bilgan erkennen, heißt, nicht mehr jemanden zu sehen, den es (vielleicht) einmal gegeben hat, sondern etwas zu sehen, das es immer wieder und auch heute gibt: die lebensverachtende Selbstherrlichkeit der Mächtigen auf Kosten der Machtlosen, der Starken auf Kosten der Schwachen, der Reichen auf Kosten der Armen. Es ist sehr wohl möglich, dass die biblischen Erzähler eben dies im Sinn hatten: in den "Philistern" nicht so sehr eine ausländische Invasion vor Augen zu malen als vielmehr die dreiste Ausbeutung einer wehrlosen Landbevölkerung, und in "Goliat" weniger einen bestimmten Einzelkrieger als vielmehr ein Sinnbild bedenkenlosen, massenhaften Tötens.
Wie nun, wenn man vor "David" die Gestalt Franz Blüchers rückt und vor "Israel" die sanft leidenden und dann still aufbegehrenden Dörfler des Balekschen Untertanengebietes? David wird dabei eher noch kleiner, noch unscheinbarer als der "Knabe" der biblischen Erzählung. Aber entschlossen wäre er und zäh und klug. Und Israel erschiene keinesfalls mehr als triumphierend-chauvinistische Siegermacht, sondern als fortwährend betrogenes und brutal gedemütigtes Untertanenvolk. Und war es nicht möglicherweise genau so? Israel unterdrückt von fremden und von eigenen Machthabern, seine Anführer nicht geboren zu ebenbürtigem Kämpfen und glanzvollem Siegen, sondern zum Gebrauch von List und Verstand und oft genug zum Leiden ...
Der frappanteste Unterschied zwischen David und Franz Brücher ist, dass der eine von seiner Schleuder als einer gefährlichen und tödlichen Waffe Gebrauch macht, während der andere auf Waffengewalt völlig verzichtet. Franz schleudert seine Steine nicht, er wirft sie nicht einmal, er wiegt sie. Und dann rechnet er. Das ist seine Art des Zweikampfs mit Bilgan und den Baleks. Und seine Familie, die Bewohner seines Dorfes erschlagen die Gutsherrenfamilie nicht, man geht mit ihr in die Kirche, schweigt sie an und stimmt gegen sie ein Protestlied an. Ein Passionschoral wird zum Widerstandslied. Im Namen des Gekreuzigten kann man gegen Unrecht protestieren, nicht aber die Ungerechten liquidieren. Im Gefolge Davids jedenfalls, wenn er die Züge eines Franz Brücher annimmt ist Ungerechtigkeit wohl zu bekämpfen, dabei aber strikte Gewaltlosigkeit zu bewahren. Ohne diese ausdrückliche Klarstellung könnte die Goliat-Geschichte auch als Aufforderung zur Gewaltanwendung wenn auch zu raffinierter verstanden werden (und ist auch oft so verstanden worden). Zwar lässt sich David nicht auf die martialische Art des Kampfes ein, die Goliat vorschwebt: mit den schweren Waffen und plumpen Methoden des damaligen Elitekriegers; David legt vielmehr die Rüstung Sauls, die ihn zu solchem Zweikampf hätte befähigen sollen, wieder ab. Doch ist ja der Einsatz der Kampfschleuder so grundverschieden nicht von dem des Spießes oder des Schwertes, mit denen Goliat umzugehen gewohnt ist. Und am Ende ergreift David, in einer ziemlich makabren Form des Schwertkampfes, die Waffe des bereits am Boden liegenden Gegners, um ihm damit den Kopf vom Leib zu trennen. Dieses Motiv vom siegreichen David, der das Haupt Goliats gerade abschlägt oder schon neben sich liegen hat oder es hoch in der Luft schwingt oder triumphierend vor sich her trägt, ist eines der beliebtesten in der kunstgeschichtlichen Rezeption der David-Goliat-Geschichte. Angesichts dessen ist es nicht leicht, die Erzählung als das wahrzunehmen, was sie (auch) ist: ein Appell zum Verzicht auf brutale kriegerische Gewalt. In diesem Sinn nämlich sind die zentralen (und wohl ziemlich spät in den Text gekommenen) Aussagen Davids unmittelbar vor dem Kampf verstehen: "Du (Goliat) kommst zu mir mit Schwert, Speer und Wurfspieß; ich aber komme zu dir im Namen Jhwhs der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, die du verhöhnt hast. Am heutigen Tage wird dich Jhwh in meine Hände liefern, ... damit alle Welt erkenne, dass Israel einen Gott hat, und damit diese ganze Versammlung erfahre, dass Jhwh nicht durch Schwert und Speer Sieg schafft; denn Jhwhs ist der Krieg" (1 Sam 17,*45-47). Liest man die Goliat- von der Balek-Geschichte her, dann rückt dieser gleichsam pazifizistische Aspekt der biblischen Erzählung in den Vordergrund und werden die in ihr enthaltenen militaristischen Züge (namentlich die Schleuder und das Schwert Goliats in Davids Hand) in den Hintergrund gedrängt. David im Bild des Franz Brücher: das ist kein Kriegsheld, sondern ein Held des gewaltfreien Widerstands.
Unsere intertextuelle Lektüre vermag noch ein Weiteres zu leisten. Vermag man in der Balek- die Goliat- wie auch die Passionsgeschichte anklingen zu hören, dann kann man auch versuchen, diese beiden biblischen Texte unmittelbar zueinander in Beziehung zu setzen. Ohne das Zwischenglied der modernen Erzählung käme man nicht leicht auf diesen Gedanken; doch mit ihr als Bindeglied ergeben sich durchaus bedenkenswerte Gesichtspunkte. Vermittelt durch die Gestalt des sanften, aber starken Franz Brücher rücken die David- und die Christus-Gestalt zusammen. Der von der "Gerechtigkeit der Erden getötete Herr" gewinnt in Franz Brücher und seinen Dorfgenossen neues Leben, so wie der gegen riesenhafte Ungerechtigkeit ankämpfende junge David in dem Jungen Franz einen Nachfahren findet. Schon lange und in vielfältiger Weise hat die Christenheit die Gestalten Davids und Christi in Beziehung gesetzt. Die David-Christus-Typologie hat ihre Anfänge schon im Neuen Testament, etwa in der Einreihung Jesu in den Davididen-Stammbaum (Mt 1) oder in der Aufnahme messianischer Erwartungen des Alten Testaments (etwa von Mi 5,2.4 in Mt 2,6 oder von Sach 9,9 in Joh 12,15) oder in der Zitation des "David-Liedes" Ps 22 in der Passionsgeschichte, am markantesten im Verlassenheitsschrei Jesu (Mk 15,34). Das christliche Mittelalter führte diese innerbiblische Typologie weiter, indem sie die herrscherlichen Attribute Davids und die hoheitliche Würde Christi hervorhob und auf dieser Grundlage eine David-Christus-Kaiser-Typologie schuf. Die in der Balek-Geschichte verborgenen Signale weisen indes in eine ganz andere Richtung: Im Bilde Franz Brüchers tritt uns ein pointiert nicht-herrscherlicher David gegenüber, und mit Blick auf ihn empfiehlt sich uns eine dezidierte Niedrigkeits-Christologie. Von hier aus hätte man die David-Goliat-Erzählung nicht als Heldengeschichte vom kommenden siegreichen Herrscher zu lesen, sondern als Wundergeschichte von dem gefährdeten Kleinen und Schwachen, der dank Gottes Hilfe überlebte und seinem Volk das Überleben ermöglichte.
Dennoch bleiben natürlich Differenzen. In der Goliat-Geschichte wird das Überleben gesichert, indem der, der das Leben bedroht, sein Leben einbüßt. Das scheint der normale, der am ehesten gangbare Weg zu sein, wenn es ein Schwacher mit einem Starken zu tun bekommt: dass er eine augenblickliche Chance nutzt, um stärker zu sein als er. Nicht so Jesus, auch nicht Franz Brücher. Jesus tötet nicht andere, sondern wird selbst "getötet". Franz tötet auch nicht; ihm selbst bleibt zwar der eigene Tod erspart, doch ereilt er seine kleine Schwester. Die "(Un-) Gerechtigkeit der Erden" kann hart zuschlagen gegen die, die gewaltlos gegen sie anzutreten wagen. Das Kreuz ist bleibendes Symbol dafür. Und auch die Brüchers werden hart betroffen: Außer einem Kind verlieren sie die Heimat. Als Vagabunden ziehen sie umher und erzählen, wohin sie kommen, die Geschichte "von den Baleks von Bilgan, an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu."
Dieser Erzählschluss wirkt traurig und pessimistisch. In der Tat wird über die wirklich wichtigen Botschaften oft hinweggehört. Oft, aber nicht immer. Unzählige haben die Geschichten von Davids Sieg über Goliat und vom "getöteten", aber nicht im Tod gebliebenen "Herrn" gehört. Und auch die Geschichte von den Baleks ging nicht verloren. Auf Menschen wie die Brüchers mag "fast niemand" hören; Schriftsteller aber, die ihre Geschichten erzählen, finden mitunter Gehör. Dabei ist es nicht erheblich, ob sich diese Geschichten genau so, ja, ob sie sich überhaupt abgespielt haben. Die Balek-Geschichte ist fiktiv. An der Goliat-Geschichte scheint nicht viel mehr historisch zu sein als der Tod Goliats (vgl. 2 Sam 21,19) und das Überleben Israels. Historisch ist auch der Tod des "Herrn" und sein Weiterleben in der Gemeinde. An Bilgan, den Baleks und den Brüchers ist nicht wichtig, dass sie oder ob sie historisch existiert haben, sondern dass die in der Geschichte von ihnen enthaltene Botschaft lebendig wird. Und so ist es ja auch bei den Geschichten von David und Jesus. Sie sind ungemein bekannt und längst unsterblich, weil sie immer und immer wieder erzählt und gehört (und gelesen, variiert, interpretiert, meditiert, vertont, gemalt, verfilmt) wurden. Die David-Goliat-Erzählung wird es relativ leicht gehabt haben, sich im religiösen und kulturellen Gedächtnis festzusetzen: Sie endet so glanzvoll. Sie endet aber auch blutig! In ganz anderer Weise blutig endete auch die Geschichte Jesu. Der sein Kreuz tragende und am Ende sein Haupt neigende Jesus ist ein starker Kontrapunkt zu dem die Schleuder tragenden und am Ende das Haupt des Gegners schwenkenden David. Doch die traurig endende Jesus-Geschichte erhielt mit Ostern einen neuen Erzählanfang. Fortan erscheint es möglich, zu siegen, ohne dem Gegner das Haupt abzuschlagen. Eben einen solchen Sieg erringt Franz Brücher: nicht martialisch und nicht triumphal, dafür gewinnend und ermutigend; nicht ohne List und Härte, jedoch ohne Gemeinheit und Gewalt.
Erzählungen unterscheiden sich von Berichten dadurch, dass sie nicht nur etwas feststellen, sondern etwas bewegen wollen. Hörerinnen und Leser sollen in die Geschichte hineingezogen werden und verändert aus ihr hervorgehen. Der scheinbar resignative Schlusssatz der Balek-Geschichte, dass sie (damals) "fast niemand" hören wollte, ist ein kaum überhörbarer Appell an die Lesenden, jetzt zuzuhören und sich zu einem Denken und Handeln bewegen zu lassen, das der Intention der Geschichte entspricht. Bedenken sollen wir, dass es Verhältnisse wie damals im Herrschaftsland der Baleks immer wieder gibt und dass sie nicht zu ertragen, sondern zu verändern sind. Handeln sollen wir so, wie Franz Brücher gehandelt hat und nicht wie die Baleks (und der Pfarrer und der Bezirkshauptmann und die Gendarmen, auch nicht wie der Wilderer Vohla). Erzählungen laden zum Nacherleben und Nachleben ein. Dem Goliattöter David nachzueifern, wäre eine zweischneidige Sache; dem "getöteten Herrn" nachzufolgen, ist klar gefordert, aber schwer getan; Franz Brücher nachzuahmen, das wäre jedenfalls gut und scheint immerhin möglich.
Was, so mag zum Schluss gefragt sein, ist das Recht und der Ertrag solch intertextueller Lektüre? Die Gefahr liegt auf der Hand: Sie könnte zu rein assoziativen und willkürlichen Interpretationen führen. Die jüdische (und lange Zeit auch die christliche) Bibelauslegung hat die Kunst des Aufeinander-Hin-Lesens scheinbar oder tatsächlich voneinander unabhängiger Texte seit jeher geübt und dafür strenge Regelwerke entwickelt. Auf jeden Fall und zuerst war nach dem Literalsinn, also der mutmaßlichen Eigenaussage des Textes, zu fragen. Doch nicht nur mit einem einfachen, sondern mit einem mehrfachen Sinn der Schrift wurde gerechnet. Das Forschen danach eröffnete Ausblicke weit über das hinaus, was ein Text beim ersten Zuhören zu sagen schien. Der Auslegung konnten sich andere Gedanken, Ideen, Texte angliedern, wodurch dem untersuchten Text neue Dimensionen zuwuchsen. Diese Interpretationstechnik geriet im Gefolge von Aufklärung und historischer Bibelkritik in Misskredit. Die Frage nach der Intention des Autors und der Eigenaussage des Textes trat immer gebieterischer in den Vordergrund. Heute wächst die Einsicht, dass diese Frage zwar sinnvoll, aber nicht die einzig mögliche und auch nicht immer eine sehr ertragreiche ist: lassen sich doch die Autoren biblischer Texte nicht immer leicht ermitteln und verweigern sich die Texte oft der Festlegung auf einen einzigen, ganz bestimmten Sinn. Es gibt Ambivalenzen, gewollte oder ungewollte Unklarheiten, Lücken, Missverständnisse usw. Es gibt schließlich und vor allem die Eigenbeteiligung der Rezipierenden an der Konstruktion des Textsinns. Je tiefer und hintergründiger ein Text, desto bedeutsamer wird der Eigenbeitrag der Lesenden zum Verstehen. So kommt es, dass die Goliat-Geschichte und erst recht die Passionsgeschichte eine äusserst facettenreiche Rezeptionsgeschichte ausgelöst haben. Die "Waage der Baleks" ist eine dieser Facetten.
Die Passionsgeschichte wird in der Balek-Geschichte nur ganz knapp und andeutend rezipiert: in Gestalt des Widerstandslieds der aufbegehrenden Landbevölkerung. Die Leserschaft wird dazu angeleitet, das geschilderte Geschehen mit dem Kreuzesgeschehen zu verbinden. Das Leiden Christi und das Leiden ausgebeuteter Menschen stehen in Beziehung zueinander. Daraus resultiert ein Deutungsgewinn: sowohl für die zeitgenössische als auch für die neutestamentliche Erzählung.
Dass bei der Balek-Geschichte bewusst und ausdrücklich die Goliat-Geschichte evoziert wird, ist demgegenüber nicht so sicher. Die beiden Hauptberührungspunkte die "Riesen" Bilgan und Goliat sowie die fünf Kieselsteine für die Schleuder lassen dies zwar möglich erscheinen; denkbar wäre aber auch, dass diese Erzählzüge bei einem im christlichen Traditionsgut bewanderten Erzähler, wie Böll einer war, wie von selbst auftauchen und sich einer Erzählung gleichsam unbewusst ankristallisieren. Eben so dürfte es zu erklären sein, dass Franz Brücher zum Zeitpunkt des Geschehens gerade zwölf Jahre alt ist: Jeder halbwegs Bibelkundige assoziiert dabei die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Doch diese hat allem Anschein nach auf die Balek-Erzählung nicht weiter eingewirkt; vielmehr greift der Autor aus dem in ihm angelegten, u.a. biblisch gespeisten Reservoir von Erzählzügen und -motiven dieses eine unwillkürlich auf. Möglicherweise ist dies auch bei den Motiven von den fünf Kieselsteinen und vom gefährlichen Riesen der Fall (zumal es von den letzteren ausserhalb der Bibel viel mehr gibt als in ihr). Überhaupt sprechen die doch erheblichen und vielfältigen Diskrepanzen zwischen der Balek- und der Goliat-Geschichte nicht dafür, dass Böll hier bewusst und gezielt eine biblische Vorlage nachgestaltet hätte.
Doch die Nachweisbarkeit eines genetischen Zusammenhangs zwischen verschiedenen Texten ist keineswegs die Voraussetzung für intertextuelle Lektüre. Eine solche Forderung bewegte sich vielmehr in den Bahnen historisch-kritischen Denkens (das sein Recht, aber keinen Alleinanspruch hat). Intertextuelles Lesen ist immer dann erlaubt und angebracht, wenn sich zwei in unserem Fall gar drei Texte zueinander so in Beziehung setzen lassen, dass sie sich gegenseitig erhellen. In der Balek-Geschichte wird die Passionsgeschichte gewollt, die Goliat-Geschichte möglicherweise ungewollt aufgerufen. Diese beiden biblischen Erzählungen miteinander zu verbinden, ist nicht eben naheliegend, doch lockt die moderne Geschichte dazu, es zu versuchen. So lenken Schnittmengen zwischen unterschiedlichen Texten das Augenmerk auf Deutungsmöglichkeiten, die ohne intertextuelle Lektüre kaum in den Blick kämen.
Die sich im vorliegenden Fall ergebenden Einsichten sind vielfältig: Das Alte und das Neue Testament rücken an einem Punkt, an dem man es kaum erwartet hätte, eng zusammen und heben sich zugleich markant voneinander ab. "Gerechtigkeit der Erden", so lehren jedenfalls aus der Perspektive der Balek-Geschichte beide, ist nicht von selbst da ist, sondern muss erkämpft werden. Diejenigen, die von der herrschenden Ungerechtigkeit profitieren, besitzen große Macht. Gegen sie lässt sich entweder gewaltsam vorgehen oder gewaltlos. Das Alte Testament plädiert (in diesem Fall!) für Gewalt, das Neue (und in seinem Gefolge der moderne Schriftsteller) für Gewaltlosigkeit. In jedem Fall ist zu gewärtigen, dass die Mächtigen ihre Privilegien notfalls mit Gewalt verteidigen werden. Gewaltfreier Widerstand gegen sie führt darum oft ins Leiden. Dennoch darf gehofft und geglaubt werden, dass die Gerechtigkeit sich endlich durchsetzt.
[1] Dieser Essay ist ein Gruß an einen Kollegen und Freund, der Sinn für Intertextualität besitzt und dessen Arbeit am Alten Testament um die Fragen nach "Gerechtigkeit" und "Freiheit", aber auch nach "Gewaltlosigkeit" kreist.
[2] Die David-Goliat-Geschichte ist in Kommentaren wie in Einzelabhandlungen vielfach untersucht worden. Ich nenne hier nur die Monographie von Stefan Ark Nitsche, David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichten einer Geschichte. Zur fächerübergreifenden Rezeption einer biblischen Story, Münster 1998, sowie zwei kleinere Arbeiten von mir: Die Erzählungen von David und Goliat in I Sam 17: ZAW 108 (1996) 172-191 = W. D., Von David zu den Deuteronomisten (BWANT 156), Stuttgart u.a. 2002, 58-73. Der Fall des Riesen Goliat. Biblische und nachbiblische Erzählversuche, in: Jürgen Ebach / Richard Faber (Hg.), Bibel und Literatur, München 1995, 241-258 = ebd., 120-133.
[3] Natürlich ist es problematisch, einen präzise zugeschliffenen Kurztext in nochmals verkürzter Form wiedergeben zu wollen. Es sei darum in jedem Fall die Lektüre des Originaltexts empfohlen. Er findet sich in mancherlei Sammlungen, Schulbüchern u. dgl.; mir liegt er in folgender Ausgabe vor: Heinrich Böll, Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen, dtv München, 1992, 11. Aufl. 2001, 88-96.
[4] Auf diese Analogie ist man schon von nicht-theologischer Seite aufmerksam geworden, vgl. Brigitte Frank, Die Waage der Baleks, in: Interpretationen zu Heinrich Böll, verfaßt von einem Arbeitskreis. Kurzgeschichten II., Oldenbourg Verlag, München 51972, 57-65, hier 61: "Die Beschreibung der Baleks" im Gegenüber zu derjenigen Franz Brüchers will einen gewaltigen "Größenunterschied deutlich machen. Man könnte an das Bild Davids denken, der Goliath gegenübersteht." Mit dieser Bemerkung hat es dann aber sein Bewenden.